
Das Wetter war nicht das, was ich mir für mein Vorhaben gewünscht habe. Der Himmel hing zwar schlaff, grau und nass, wie ein ungebleichtes, 300 Jahre altes Leichenhemd zwischen den Bäumen, aber es war nicht das typische Beerdigungswetter, wie man es aus alten, englischen Schwarz/Weiß-Filmen her kennt. Es war auch nicht das kalte, graue Novemberwetter, bei dem man gewöhnlich Leichen im Stadtpark findet. Es hatte etwas von Beiden, war aber dem Leben zugewandter gestimmt. Das lag schlicht daran, daß wir Frühling haben und die Natur nunmal erwacht. Das macht sie auch auf einen Gottesacker, und sie ist die Einzige, die das tut ohne Angst und Schrecken zu verbreiten.
Die Idee für meine Exkursion stammt aus einem benachbarten – schräg gegenüber – Blog, dessen Inhaber gern auf bedeutenden Friedhöfen lustwandelt und dabei schöne Photos von schönen Gräbern macht. Die Ästhetik des Todes, des Dahinsiechens oder des plötzlich und unerwarteten Verbleichens – bzw. das, was die Hinterbliebenen und die Friedhofsverwaltung daraus machen – übt auch auf mich eine gewisse Faszination aus und so beschloß ich den Neuen Annenfriedhof, der bereits im besagten Blog eine lobende Erwähnung fand, zu besuchen.
Den Tod hatte ich auch lange nicht vor Augen – die letzte Beerdigung der ich beiwohnen mußte, ist schon etwas länger her und sie war auch völlig unspektakulär – und so machte ich mich, trotz des etwas unangepaßten Wetters, heute früh auf den Weg, um seinen Spuren zu folgen.
Sicher gibt es Dinge, die einem wichtiger erscheinen mögen, als am frühen Vormittag sich in die Schar der Rentner zu fügen, die mit Graberde, Grabgabelchen und Planztöpfchen voller Stiefmütterchen zu den Grabfeldern pilgern, aber wer weiß schon, wann ich wieder einmal dazu kommen werde, einen Friedhof freiwillig zu besuchen? Keiner.
Des Todes Spuren führten mich erstmal zu meinen Auto. Das soll nicht heißen, daß seine TÜV-Plakette unwiderruflich abgelaufen ist, nein, aber die Straßenbahnfahrkarte hätte mich ein kleines Vermögen gekostet, was ich mir nur zu verschleudern erlauben würde, wenn es meine letzte Fahrt auf einen Friedhof gewesen wäre. Aber so – sozusagen als Wiedergänger – sind die zwei Euro in etwas Nahrhaftes, vielleicht in eine Bockwurst mit Brötchen, besser angelegt. Obwohl der, der die zu diesen Wucherpreis anbietet auch auf den Friedhof gehört. Vielleicht haben sie ja tatsächlich dort eine Würstchenbude aufgemacht. Lohnen würde sich das, bei der Rentnerschwemme jeden Tag, bestimmt.
Diese letzte Beerdigung liegt wirklich schon eine Weile zurück. Die muß im Sommer 2006 gewesen sein, als es so brütend heiß war. Da lag er auf meinem Parkett und rührte sich nicht mehr. Hitzschlag. Vermute ich. Oder er ist verdurstet. Wasser hatte er ja keins mehr. Vergessen. Ich, das Wasser. Also habe ich ihn aufgehoben und zum Auto getragen. Der wog auch fast nichts mehr. Vielleicht ist er ja verhungert. Egal. In dem Kofferraum sah er so verloren aus, daß er mir beinahe leid tat. Kein Mitleid. Meine Schwester war im Urlaub, so daß ich auf ihrem Grundstück meinen Plan ungestört umsetzen konnte. Wenn sie da gewesen wäre, hätte ich sicher einen Kaffee trinken und ihr erzählen müssen, wie er umgekommen ist. Aber so konnte ich ihn auch an einem Ort meiner Wahl entsorgen, ohne ellenlange Diskussionen über das Für und Wider meiner Platzwahl führen zu müssen. Die Beerdigung an sich ging fix. Ohne Salutschüsse, ehrendes Gedenken und so einen Firlefanz zog ich sie in Minutenschnelle durch. Die Gehwegplatte habe ich hochgehebelt und den Vogel, den Wellensittich, aus 1,50m Höhe auf seinen letzten Freiflug geschickt. Etwas zerfledert trudelte er herunter, gehorchte aber den Gesetzen des freien Falls, was mich etwas besänftigte, fügte er sich doch zu Lebzeiten meinen Weisungen nie. Die Platte knallte herunter, ich trat sie wieder fest und die Festivität war beendet. Sicher hätte ich seinen Sargdeckel mit einem Permamentmarker und einem Kreuz markierend besudeln können. Aber für die vollgeschmierte Gehwegplatte hätte mich meine Schwester gesteinigt und den toten Vogel besucht höchstens eine hungrige Katze. Diese braucht keine Inschrift, sondern eine Idee, wie sie unter die Platte kommt.

Steinigen ist ein schöner Übergang. Der Friedhof lag vor mir und die Imbißbude hatte natürlich zu. Ich habe keine Ahnung, wann die aufmachen, denn Öffnungszeiten – wie sie eigentlich zwingend vorgeschrieben sind – konnte ich nirgendwo entdecken. Aber vor dem Kiosk kann man, wie der helfende Hinweis aus dem Nachbarblog beschrieb, wirklich gut wenden, und so ein Wendeplatz gehört, für mein Dafürhalten, eigentlich vor jeden Friedhof und damit in die Friedhofsordnung.

Geparkt habe ich meinen Wagen dann in einer Seitenstraße, und in den Friedhof bin ich über einen idyllischen Nebeneingang geschlüpft. Logisch. Ich war ja inkognito unterwegs. Solche verträumten Dienstboteneingänge machen sich ganz gut, wenn man in aller Stille beerdigt, oder, wie man so schön sagt, eine Ehe auf katholisch geschieden wird.

Gleich zu Beginn meiner Patrouille entdeckte ich meinen zukünftigen Sommerwohnsitz. Was kann es Schöneres geben, als bei der größten Hitze auf einer Bank, in einer kühlen Nische, zu sitzen und zu hören, wie es leise von unten gegen die Grabplatte pocht?

Die Toilette ist auch gleich nebenan. Kurze Wege sind im Alter wichtig. Mein Bermuda-Dreieck, in dem ich für diesen Sommer zu verschwinden gedenke, ist somit abgesteckt: Imbißbude, Bank in der kühlen Nische und Toilette. Perfekt! Nur Montags, vor 9.00 Uhr, muß ich ins Gebüsch pinkeln. Laut Schild wird da die Örtlichkeit hygienisch gereinigt. Was immer das auch sein mag. Hoffentlich wird sie dabei auch sauber.
20 Cent für einen Stuhlgang zu entrichten heißt, sich einer moderaten Preisgestaltung zu beugen. Hauptsache ist, die dafür installierte, moderne Technik funktioniert immer zuverlässig. Dies wage ich zu bezweifeln, denn das Schloß zeigt deutliche Spuren, die mehrere gewaltsame Aufbrüche nur mangelnd kaschieren.

Als vertrauensbildende Maßnahme wurde gleich daneben ein High-Tech Zahlenkombinationsschloß angebracht. Funktioniert der Münzeinwurf nicht mehr, weil er durch einen unpassenden Knopf von einer Dederonkittelschürze unsachgemäß blockiert wurde, kann man das Schloß durch die Eingabe des richtigen Zahlencodes wieder freischalten. Ein Schloß mit einem normalen Schlüssel hätte es zwar auch getan, aber was passiert, wenn der Schlüsselbevollmächtigte selbst einsitzt? Nichts. Den Schlüssel kann man nicht durch den Türspalt nach außen schieben, die Zahlenkombi aber einer zu Hilfe eilenden Fachkraft durchbrüllen.

Beeindruckend für mich ist die überdurchschnittlich, nach der Gaußschen Normalverteilung (siehe auch: Mathematik des Todes) errichtete, hohe Anzahl an Wasserspendern und Ausleihgießkannen. Für jedes Gräberfeld gibt es, je nach Belegung, mindestens eine Workstation. So wird ein ungezügeltes Drängeln und Schubsen verhindert.

Die Hydranten funktionieren nach einem einfachen Prinzip: Rechts am Hahn drehen und vorn strömt das Wasser. Das geht ganz ohne zu erwerbende Metallchips, wie sie sonst bei den Duschen auf Zeltplätzen üblich sind. Herrlich! Jetzt muß ich nur noch herausbekommen, wie ich den Duschschlauch an den Hahn bekomme. Ein Gewinde dafür ist nicht zu entdecken. Mit einer Gummimuffe? Irgend etwas werde ich schon erfinden. Ich kann mich ja im Sommer unmöglich in der Hocke, gebückt oder halb liegend erfrischen. Was sollen denn die Leute von mir denken?

In den Workstation integriert ist auch eine kombinierte Abfallsammelstelle, die aufgrund ihrer Höhe einen etwas befremdlichen Wühltischcharakter zur Schau stellt. Eine grüne Tonne bietet Plastikmüll feil und Rechterhand sorgt ein Drahtverhau für die schnelle Kompostierung von organischen Abfall. Die Beschilderung ist für heranwachsendes, des Lesens kundigen Publikum, aufgrund dessen frühen Entwicklungsstadium geschuldeten, ungünstigen, weil zu niedrigen Blickwinkels, etwas irritierend. Aus ihrer Höhe betrachtet, können sie so schnell falsche Schlüsse über das Geschehen auf einem Friedhof ziehen. Das eine pädagogische Begleitung Heranwachsender gerade auf Gottes Äcker unabdingbar ist, wird einem so etwas schmerzlich vor Augen geführt.

Womit wir bei den Gräbern an sich wären. Kurz: Es gibt Wichtigeres auf einem für Leichen befriedeten Hain. Für mich zumindest. Auf den Grabsteinen steht eh immer das Selbe. Oben ein sinnfreier, frommer Spruch, darunter die Eckdaten des Verblichenen und im Zweifelsfall ein Hinweis auf seine Talentlosigkeit in beruflichen Dingen. Das war es dann schon. Meist verschleiern – oder führen vorsätzlich in die Irre – zusätzlich aufgestellte Plastiken das wahre Andenken an den teuren Toten. Auf dem Bild oben könnte man meinen, daß dort die Erfinderin des Handys ihre letzte Quasselrunde gefunden hätte, in Wahrheit aber, bei einer genaueren optischen Prüfung, handelt es sich wahrscheinlich um die Urheberin des Papiertaschentuches oder der Küchenrolle. Möglich ist aber auch, daß es nur ein Sinnbild stiller Trauer ist.

Diese Trauer bleibt dem modernen Hinterbliebenen leider meist verschlossen, wie das Übel der um sich greifenden Blitzbeerdigungen zeigt. Etwas ausgebrachter Grassamen würden den Spuren wütender Erdbohrer gut tun und es muß ja nicht der teure Sport- und Spielrasen sein – der empfindlichere Schattenrasen käme dem Anlaß sogar besser gerecht.


Man kann natürlich auch auf Zeit spielen und der Natur freien Lauf lassen, wie es oben schön zu sehen ist. Ist alles erstmal von Efeu berankt, sind auch die Spuren längst vergessener Gräber getilgt, und man kann ohne Gefühlsduselei mit der Planierraupe darüberheizen und somit Wegbereiter für neue Erdlöcher sein, die wiederum Vergangenes tilgen.
Das schöne am Neuen Annenfriedhof ist auch seine offene und sehr freizügige Bebauung, die seinen parkähnlichen Charakter unterstreicht. Die Gräberverteilung erfolgt scheinbar über einen Zufallsgenerator und nicht über eine streng reglementierte Ordnung. Da laden große, freie Wiesen zum Verweilen ein. Ich darf im Sommer unter keinen Umständen mein Grillzeug zu Hause vergessen. Immer nur an der Imbißbude speisen, wird auf die Dauer doch zu langweilig.

Vielleicht nehme ich, zu meiner Zerstreuung und Erbauung, den einen oder anderen Vierbeiner aus der Nachbarschaft oder dem Freundeskreis mit in den Sommerurlaub, und gehe mit ihm eine gepflegt Hunderunde am Rande des bunten Treibens? Hier an der Mauer entlang? Ein bißchen Bewegung täte den Viechern ganz gut.

Hier müssen wir auch nur geradeaus laufen, was bei der zu erwarteten Hitze unseren Intellekt nicht zu überfordern verspricht. Dieser Weg ist bestimmt ein nach oben offenes Wurmloch, was direkt in die Lobby einer Abdeckerei führt. Ich werde mich gegebenenfalls – wenn das Verhalten des Köters nicht meinen bescheidenen Wünschen entspricht – daran erinnern und seinen letzten Gang begleiten. Ich gehe mal davon aus, daß der Besitzer des Tieres grundsätzlich nichts gegen meine Einstellung zu diesem Thema einzuwenden hat, sonst würde er mir das Tier nicht auf den Friedhof mitgeben.

Auf eine Besonderheit auf diesem Areal muß ich noch abschließend hinweisen. Die vielen ausgewiesenen Baustellen sind nur reine Dekoration und so alt, wie der Friedhof selbst. Da tut sich gar nichts.

Hinter einer aber verbirgt sich ein blühender Garten, der schwerst romantisch inmitten berstenden Zerfalls angelegt wurde. Eine wahre Augenweide tut sich einem da auf. Ich kann nur jedem empfehlen, beim nächsten Bummel über den Neuen Annenfriedhof darauf ein Auge zu werfen.

Was bleibt, ist Bockwurst. Auf die Imbißbude direkt vor dem Haupteingang ist scheinbar kein Verlaß. Die stoßfesten Jalousien sind immer noch unten, aber schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, bietet der Fleischer die Würstchen zu einem unschlagbaren Preis von sagenhaften 50 Cent an.
Eine, zwar noch ausfeilbare, schöne Grabinschrift gab es doch: Wenn ihr mich sucht, sucht mich in eurem Herzen.
Den Notausgang vom Ganzen hätte ich jetzt beinahe vergessen. Da ist er:
