Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Samstag, 30. März 2013

Maus im Milchglas



»Wo ist denn der Verrückte hin?«

Der ist nicht verrückt, nur momentan etwas angespannt. Deswegen hat er auch den Wein vergessen, den er jetzt noch schnell holen will.

»Heißt das, daß ihr heute wieder die ganze Nacht vor dem Computer hockt und ich den ›Tatort‹ nicht sehen darf?«

Korrekt. Der Mann ist nicht fernsehfest. Ist die Kiste an, glotzt der wie ein in Schockstarre gefallenes Karnickel auf deren Bildschirm, und nicht auf den Monitor meines Rechners. Beides steht nun mal in unserem Wohnzimmer. Also muß die gute Frau kuschen, sich ein Buch schnappen oder am besten gleich im Bett verschwinden.

»Na toll, da kann ich ja gleich ins Bett gehen. Bei eurem Gelaber kann sich kein normaler Mensch auf ein Buch konzentrieren. Ich schon gar nicht. Da hilft nicht mal Wein. Wie viel Flaschen bringt er denn mit?«

Ausreichend wie immer. Darin ist er verläßlich.

»Stimmt. Ich zweige mir dann ein oder zwei Flaschen ab und lese im Bett meinen Krimi zu Ende. Vergiß bitte morgen früh nicht die leeren Flaschen mitzunehmen. Ich will so etwas nicht in meiner Küche haben.«

War klar. Sich abends die Kante geben und dann morgens mit all dem nichts mehr zu tun haben wollen. Und wieso ihre Küche? Wer kocht und putzt dort wie ein Blöder und welche Frau drückt sich davor permanent? Ach, ich streite mich jetzt deswegen nicht herum. Da nehme ich eben die zwei, drei Beutel mit den geleerten Weinflaschen morgen früh mit in das Auto und schmeiße sie irgendwann in den Container.

»Wo bleibt der denn? Ich will ins Bett! Sag mal: Der Kaputte dort unten auf der Wiese, der in dem Heimkehrermantel, ist das nicht dein Verrückter? Man sieht ja fast nichts bei dem Nebel!«

Es ist November, schon halb dunkel und über das Feld wallt der um diese Jahreszeit übliche, dichte Nebel. Normalerweise kann man von hier aus weit in das Elbtal schauen. Jetzt nimmt man nur ab und zu eine graue Gestalt wahr, die schemenhaft aus dem Weiß hervorquillt, um gleich wieder in der Suppe zu verschwinden. Alles sieht aus, wie ein riesiges Glas voller Milch, in dem eine zappelnde Maus umgerührt wird.

»Paßt! Die Maus sieht in dem Glas auch keine klaren Bilder mehr. Wie dein WK-zwo Kriegsheimkehrer der da draußen rumhopst! Der soll nur momentan ein bißchen angespannt sein?«

Der kommt nicht aus dem Krieg, der befindet sich in einem. Seine Frau hat alles hingeschmissen und ist mit einer zwanzig Jahre jüngeren Französin durchgebrannt. Den Hund hat sie auch mitgenommen.

»Die Töle ist weg? Das ist natürlich dramatisch! Wo die so schön den Teppich voll sabbern konnte. Diese Flecken bekomme ich nie wieder raus. Weißt du, wie oft ich da schon geschruppt habe? Weißt du das?«

Wie dem auch sei. Jedenfalls ist man da nicht relaxt und eben etwas angespannt. Das kann ich ja verstehen. Da sitzt er eben zur Zerstreuung bei mir am Rechner, wir basteln was Gescheites und morgen früh ist er wieder die Ruhe selbst.

»Sicher, ihr kleistert euch mit Wein, coolen Sprüchen und Selbstbeweihräucherung die Birne zu, um am Ende der Schicht festzustellen, daß ihr die größten Knallköpfe im Universum seid. Ist da schon jemals etwas Gescheites dabei herausgekommen? Irgend etwas, was irgend jemanden interessieren könnte?«

Nein. Natürlich nicht. Obwohl das Ansichtssache ist. Unsere Kunst besticht durch ihre Häßlich- und Uninterpretierbarkeit. Das ist so gewollt. Wenn man etwas Großes erschaffen will, muß man neue Wege gehen und den Mut zur Lücke haben.

»In der Lücke seid ihr nicht alleine. Das seid ihr sowieso nicht. Ganz alleine. Mit dem Unterschied, das eure Kollegen wenigstens in der Tagesklinik ausstellen dürfen. Mein Hang zu komplett gestörten Leuten bringt mich irgendwann auch noch mal dorthin.«

Bla, bla, bla.

»Guck mal, dein Kriegskamerad wirft jetzt wieder die Handgranate! Arbeitet der jetzt seine Armeezeit auf? Der hat sie doch nicht mehr alle.«

Es könnte sein. Zumindest sieht daß, was man erkennen kann, so aus. Er wirft das Ei, schaut wo es hinfliegt und rennt los, um den Gegner zu verwirren und geht anschließend in Deckung. Manchmal schmeißt er sich dabei hin und rollt gekonnt ab. So in etwa haben wir das bei der Armee alle mal gelernt. Das Ganze gebärdet sich zwar etwas ziellos, aber nach all den Jahren Zivilistendasein ist das kein Wunder. Außerdem ist das Gefechtsfeld mehr als vorbildlich eingenebelt. Da kann man schon mal die Orientierung verlieren.

»Jetzt hat es gescheppert! Hörst du das Gezeter? Das war dein Kaputter! Jede Wette! Aber man sieht nichts. Scheiß Nebel! Doch jetzt kommt er angerobbt. Guck mal!«

Der robbt nicht, sondern läuft geduckt, die natürliche Deckung nutzend, auf unseren Hauseingang zu.

»Jetzt kommt der wieder zu uns! Der Nachbar fällt bestimmt schon aus dem Fenster vor Neugier. Der hat den ganzen Tag nichts zu tun und wartet nur darauf sich das Maul zerfetzen zu können. Was soll der jetzt denken? Das wir ein Stützpunkt für paramilitärische Knusperköpfe sind? Der ruft doch sicher gleich die Polizei!«

Der Nachbar hält dicht. Ihm entgeht nichts aber er grinst nur und denkt sich seinen Teil. Zumindest hat er das bei meinen diskreten, amourösen Eskapaden bisher auch immer getan. Vermutlich war der auch mal jung und seine Frau auf Arbeit.

»Ich gehe runter, ihm die Tür öffnen. Nicht, daß der das ganze Haus herausklingelt!«

Weibliche Neugierde hat auch seine Vorteile. Geschickt genutzt, erspart sie einen mitunter das Treppensteigen.

»Ist das ein Scheißwetter da draußen! Man sieht nix! Ein paar mal bin ich hingeklatscht. Bei euch liegt irgendwelcher Müll auf der Wiese!«

Lag. Wo ist der Wein?

»Stimmt, der Wein! Ich wollte Wein holen. Das habe ich ganz vergessen. Deswegen war ich ja im Kofferraum, ein paar leere Beutel holen. Da habe ich den Bumerang liegen sehen und ich dachte mir: probiere ihn erst einmal aus, bevor du ihn wegschickst.«

Was?

»Hatte ich das nicht erzählt? Gut, ich bin in letzter Zeit etwas angespannt, da habe ich das wohl vergessen.«

Was?

»Meine Tochter will heiraten.«

Was?

»Einen Abori..., einen Abo..., ach egal. Einen Australier! Der ist Schamane in seinem Dorf. Angeblich die große Liebe. So ein Scheiß! Gestern sind die wild entschlossen in den Flieger und Hals über Kopf da runter gedüst. Ohne Bumerang! Ohne Bumerang bist du dort im Busch aufgeschmissen. Mensch! Ich muß doch da irgendwas machen! Als Vater muß ich doch darauf reagieren! Flagge zeigen! Farbe bekennen! Also habe ich den Bumerang gekauft und schick ihn ihr nach. Irgendwas mußte ich doch tun! Mensch, die will heiraten! Einen Schamanen!«

Als ich seine Tochter das letzte Mal gesehen habe, machte sie auch einen etwas angespannten Eindruck. Das liegt wohl in der Familie, da kann man nichts machen. Und wo ist der Bumerang jetzt?

»Keine Ahnung. Das Ding ging prima. Der flutschte nur so aus der Hand. Das war schon beeindruckend, wie der im Nichts, im Nebel, verschwindet, um plötzlich wieder aufzutauchen. Nur der letzte Wurf ging schief. Ich hörte es nur scheppern und schreien. Das klang, als hätte ich jemanden vom Fahrrad geholt. Vorsichtshalber habe ich mich dünne gemacht. Das ist sonst nicht meine Art, aber wie sollte ich dem erklären, daß ich im dicksten Nebel einen Bumerang ausprobieren mußte? Jetzt, wo es noch dazu schon halb dunkel ist?«

Zugegeben, das wäre etwas schwer geworden.

»Ich gehe mal Wein holen, bevor der Laden zumacht. Vielleicht finde ich den Bumerang wieder. Der muß da ja noch herumliegen.«

Zu meinem Nachbarn habe ich ein Verhältnis, wie es zwischen erwachsenen und abgeklärten Menschen nicht besser sein kann. Der ist zwar neugierig aber nicht sehr mitteilungsbedürftig. Seit Jahren grüßen wir uns, aber unterhalten uns nicht. Besser geht es nicht. Als ich am nächsten Tag mit meinen leeren Flaschen an ihm vorbei schepperte, hob er die Hand als würde er mich etwas fragen wollen. Dann ließ er sie sinken, grinste, winkte ab und trollte sich.