Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Samstag, 16. Oktober 2010

Das Wunder von Berlin

Dank an Heike und Siggi. 73 til_o.

»Das Schönste am Trappistenkäse ist, daß er die Klappe halten muß.« aus: Til van der Hasze; Beglaubigte Werke 2010, Band 2

… ist genau genommen kein Wunder. Gut, ich habe die knapp 200km von der Hauptstadt zurück an die Erdoberfläche fast ohne fremde Hilfe selbst geschafft. Aber wie jede gute Wunde, so spuckt oder eitert auch Berlin Fremdkörper wieder aus. Insofern war es keine große Leistung von mir, das Licht meiner Welt mit all seinen gutartig wuchernden Schatten wieder zu erblicken. Freiwillig dort unten bleiben nur Lichtgestalten die ihre Gründe dafür haben müssen. Denn in Berlin kommt man nicht an, sondern davon. Überall lobpreist man diese Stadt im Vergleich zu New York oder Tokio als die erwachende Weltmetropole – für mich ist sie ein unheilbarer Trümmerbruch aus Vergangenem und krampfhaft neu Beschworenem. Auferstanden aus Ruinen sind dort nur neue marode Hirngespinste aus abwaschbaren Plaste und Elaste des schlechten Zeitgeschmackes expandierenden Kapitals. Aufgebaut, ausgelaugt und wieder abgerissen. Das Hamsterrad als Selbstzweck. »Ist es denn wirklich so, daß wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nur kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des KIK, ALDI, ToysRaus, MacFit und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluß machen.« Die Fratze des Imperialismus und seines militärisch-industriellen Komplexes ist im Grunde nur ein billiges Austauschgesicht, was man in jeder Stadt bewundern kann. Womit wir in Dresden und dem Startpunkt meiner Ausfallerscheinung wären.


Natürlich habe ich meinen guten alten Seesack als Transporter für diverse Extras wieder herausgekramt. Mein Bettzeug, Kuschelknietschtier, Reiseproviant, der Rechner plus Schreibtisch und der halbe Garten – es ist unglaublich, was da alles reinpaßt – mußte ja gut verpackt mit auf die Reise. Sogar der Container voller Erinnerungen, aus einer Zeit, in der ich noch als hauptberuflicher Dummy von Crashtest zu Crashtest durch die ostberliner, schuttgrauen Dschungelhalbwelt eilte, fand seinen Platz. Als Kompaß oder Orientierungshilfe sollte er mir dienen aber mein Unterbewußtsein verwand ihn besser als Faden der Ariadne, der sich sowieso als roter Strick durch mein Leben spinnt.

Über die Fahrt gibts nicht viel zu berichten. Rauf auf die Autobahn und ab durch die Wüste eben. Die endet genau am Ortseingangsschild Berlin und damit die von Gott, IKEA, Möbel Höffner und McDonalds verlassene Zone Brandenburgs. Bis dahin konnte man ohne Sprit liegenbleiben, weil es keine Tankstellen gibt, und ab da bleibt man liegen, weil man sich nicht für eine der drei Millionen Zapfpunkte entscheiden kann.

Wenn man von seiner Betonpiste, also der Autobahn, nach rechts und links in den Wald, also ins Nichts, sieht, ahnt man, daß es Eisenhüttenstadt, Schwedt oder vielleicht alle Dörfer mit mehr als 16 Seelen in der Mark Brandenburg nie gegeben haben kann. Seit Albrecht dem Bär schon nicht. Es war alles eine riesige Propagandalüge nicht nur der DDR-Regierung. Dort gibt es jetzt nichts, also kann es nie etwas gegeben haben. Außer die paar Eingeborenen mit ihrem orthodoxen Deutsch, die bei der letzten Brandrodung 1945 aufgescheucht wurden. Als in den siebziger Jahren ein Hubschrauber nach ihnen sehen wollte, sind die vor lauter Angst bis hinter den Ural geflohen, und damit weiter ins russische Reich vorgedrungen, als manch Deutscher vor ihnen. Dieses mal ohne Pferd und ohne Panzer. So wurden sie auch mit offenen Armen empfangen. Von Leuten die ein sehr orthodoxes Russisch sprechen.
Vermutlich hatte das DEFA-Trickfilmstudio ein paar Mülltonnen in Großaufnahme gefilmt und das Ganze als Dokumentarfilm über das Eisenhütten-Kombinat inszeniert. Wer fliegende Windmühlen so glaubhaft und authentisch auf die Leinwand bannt, kann auch aus einem Samowar einen Stahlkocher machen. Oder SS-20 Raketen. Je nachdem. Und wir alle haben das geglaubt, so wie wir jeden Scheiß glauben, der Schwarz auf Weiß und ohne viel Federlesen daherkommt. Schlimm nicht?

Bis zum Zielpunkt ging es dann relativ zügig voran. Die Stadt Berlin ist eine einzige Baustelle. Die buddeln und zementieren was die Steuergelder oder der Kreditrahmen hergibt. Aber man hat trotzdem das beruhigende Gefühl, daß die niemals damit fertigwerden. Die Claims sind nur scheinbar abgesteckt und Planfeststellungsverfahren enden nie. Irgendwas bleibt dabei immer auf der Strecke und somit erhalten.

150 Lidlbuden gibt es in Berlin. 333 davon wahrscheinlich vom Ortseingang bis genau 23m neben meiner Unterkunft. Da hätte ich auch zu Hause bleiben können. Hier habe ich es nur 20m bis dahin. Meine Paranoia deswegen ist schon recht paradox. Zu Hause fühle ich mich vom Discounter verfolgt, außerhalb ist er mir vertraut und der Fels in der Konsumbrandung. Natürlich bin ich da gleich mal rein um »Guten Tag« zu sagen. Dem Toastbrot, den Thunfischbüchsen und dem Möhrensaft. Alles gute alte Bekannte von Daheim. Ein »Hallo!« war das! Nur die Kassiererinnen sahen anders aus. An dieser Stelle muß die Konzernleitung noch nachbessern.

Der Abend gestaltete sich entspannt verquatscht und war für mich von neuen Erkenntnissen geprägt. Zum Beispiel, daß man von Berlin bis Hanoi mit dem Zug fahren kann. Im Sommer dort angekommen, besucht man entweder den Sohn des Imbißbesitzers vom Asia-Grill hier an der Ecke, der gerade in theoretischer Kybernetik promoviert hat, oder man vertritt sich besser nur schnell die Beine und fährt wieder zurück, um vor dem Wintereinbruch wieder zu Hause zu sein. Wobei die Jahreszeiten keine Rolle spielen, wenn man sich als Hauptwohnsitz eine Kebabbude erwählt hat, in der man mit der Fernbedienung für den TV-Apparat, oder Dart und Schach spielen kann. Dort läuft man nicht Gefahr, daß einem die Decke, sondern höchstens die Dönerkeule auf den Kopf fällt. Oder das es ein Meilenstein in der Literaturgeschichte ist, wenn man als Schriftsteller für Wert befunden wurde in China mit einem Band verlegt zu werden, auch wenn einem das Warum völlig schleierhaft ist, aber es auch irgendwie doof ist, wenn einem das zugeschickte Belegexemplar kein bißchen bekannt vorkommt. Nun ja, irgendwas ist immer und wir beschlossen, daß es eine gute Sache wäre, wenn wir den kommenden Tag mit einer Straftat und einen Gang über den Friedhof begrüßen würden.

Was wir am Morgen auch taten. Beim Bummel über den Totenacker erfreuten wir uns noch etwas über unser multikulturelles Husarenstück. Aber da ich das Erwachen aus dem Schlaf mir unliebsamer Mitmenschen auch als eine von ihnen begangene strafbare Handlung ansehe, so erkenne ich unser kleines Abenteuer eher als notwendige Maßnahme zur Völkerverständigung mit beiderseitigen Vorteil an.


Das Wetter war schön, vor allem kalt, die Sonne quälte sich über die brüchige, durchlässige Friedhofsmauer in den unvermeidlichen Tag hinein und ich war, friedlich und versöhnlich gestimmt, kurz davor den Opfern der humanitären Anschläge des Kommandos 8. April zu gedenken. Aber so weit ging mein Vergebungszwang dann doch nicht. Außerdem sind die zwar alle schon beerdigt, aber eben noch lange nicht tot.


Nirgendwo ist das Leben und der Tod schöner vereint als auf einem solch gepflegten Trauerbolzplatz. Um den Kontakt zwischen dem überirdischen Dahinsiechen und dem unterirdischen einfach Totsein zu pflegen, bedarf es seit Alters her genau zwei Dinge: Ein Harke und eine Plastegießkanne für die Blumen auf dem Grab der jeweiligen, individuellen Begegnungsstätte. Das man sie hier, getreu dem Einkaufswagenprinzip, nur dann von der Kette bekommt, wenn man einen Euro als Pfand einschiebt, kann ich nur als Verfall der guten Sitten in dieser Gesellschaft werten. Früher hat man die Gießkanne nach der Grabpflege fromm und brav wieder zurückgebracht, ohne sie einfach ins Gebüsch zu schmeißen, wie es heutzutage der Fall zu scheinen ist.
Eine schöne Aufmerksamkeit der Friedhofsverwaltung ist der ebenso ausleihbare, handliche und einfach zu handhabende Morgenstern, der diskret bei den Gießkannen zu finden ist. Damit lassen sich unkompliziert eventuelle Irritationen schnell beseitigen. Etwa, wenn die Alte sich partout wieder aus dem Grab buddeln will, oder der Festredner Knete labert. Buff! Da gibts ein paar auf die Nuss und fertig.

Überhaupt befinden wir, daß es auf dieser Welt viel zu viele Bürger gibt, deren einziger Lebenssinn darin zu bestehen scheint, ihrer Umwelt auf den Nerv zu fallen und ihr den Tag zu vermiesen. Nebenbei schachten diese unermüdlich an ihrem Grab, kommen aber nie am Boden an. Nicht mal das bekommen die fertig und sie sind in allem so konsequent erfolglos, daß sie letztendlich unsterblich werden. Erst wenn unsere Sonne zur Supernova wird und ihr Feuersturm die Erde von der intergalaktischen Sternenkarte tilgt, werden ihre Körper wieder zu einzelnen Atomen zerstrahlt und eins mit den unendlichen Weiten des Weltalls.

So, wie wir nun vergnügt über die verblichenen, ausgegrillten Reste erfolgreicher Mitbürger schlenderten, mußte ich an Douglas Adams und sein Buch »Per Anhalter durch die Galaxis« denken. Wir hatten was von Arthur Dent, Ford Perfekt und Trillian. Das Herz aus Gold mit seinem Unwahrscheinlichkeitsantrieb ist entweder meine Schwester selbst oder ihr uralter Golf Diesel der mich auf diesen Gottesacker portierte. Aber genau so gut zu uns paßte die Figur des Marvin, des Zaphod Beeblebrox oder des Slartibartfaß der uns erklärte, das die Antwort auf den Sinn des Lebens, dem Universum und den ganzen Rest nicht 42 sondern 73 ist.
Natürlich mußte jetzt das unvermeidliche Sofa in unseren Gedankengängen schweben, auf dem Arthur Dent und Ford Perfekt im dritten Teil des Bandes (wie gehabt: »Das Leben, das Universum und der ganze Rest«) durch das Raum-Zeit-Kontinuum reisen, und obwohl auch mein Entschluß, einfach verrückt zu werden um meine Umwelt ertragen zu können, Äonen weit zurückliegt und ich nicht mehr weiß, ob ich ihn damals in die Tat umgesetzt habe, nehme ich bereitwillig darauf Platz.


Aber in der Realität stellt so ein Sofa, wie es in jedem der Bohème verpflichteten Haushalt nicht fehlen darf, nur eine Sonderform des Schwarzen Loches, nämlich das Blaue Loch dar. Durch seine unendliche Massekonzentration verschlingt es nicht Materie oder Licht, sondern es krümmt nur die Zeit zu einer Schleife oder besser zu einem Möbius’schen Band. Man setzt sich darauf, trinkt einen Kaffee, raucht eine Zigarette oder liest in einer Zeitung und schwupps – sind anderthalb Jahre vergangen. (Oder auch nicht. Wir haben doch noch das Jahr 2010? Oder?) Gut beschrieben wird dieses Phänomen in dem Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« aber im Unterschied dazu, wird einem selbst nicht bewußt, daß man in einer Zeitschleife festsitzt, so das man das Blaue Loch nicht mehr selbst verlassen kann. Nur später beschleunigt einem die sich kreisende Zeit so, daß man unweigerlich aus der Spur geworfen wird.

»Aus der Spur« kann ein Dauerzustand sein, der, wenn man ihn nicht lenken und beherrschen kann, auch naturbreit genannt wird. Davon bin ich meilenweit entfernt, auch wenn ich mich inzwischen außerstande fühle dieses herbstlich gestimmte, separierte Massengrab wieder zu verlassen, so sehr fasziniert mich der Gedanke von Dresden nach Berlin gefahren zu sein, nur um auf diesen Friedhof vor mich hin zu dämmern. Zeit dafür habe ich ja. Obwohl die Zeit so ziemlich das unwichtigste ist, was es in dieser Welt mit seinen 11 Dimensionen gibt. Man braucht sie nicht um Zustände zu beschreiben und daß man keine hat, sie einem davoneilt oder in den Rücken fällt usw. ist nur pure Einbildung des eigenen übersteigerten Selbstwertgefühls. Die Zeit kümmert sich in Wahrheit nicht um einen, und man kann auch nicht Besitz von ihr erlangen und sie somit wieder verlieren. Die Zeit vergeht einfach ohne wenn und aber, obwohl selbst das nicht erwiesen, sondern nur eine pure Annahme ist. Das beste Beispiel dafür bin ich selbst. Ich stehe hier zwischen Gräbern und weiß, daß dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein und dasselbe ist.


Eigentlich wollte ich in der Hauptstadt ein paar Weihnachtseinkäufe tätigen. Dresdner Stollen besorgen zum Beispiel. Aber der Geheimtipp dazu erwies sich als veraltet und der Laden als insolvent. Aber mal ehrlich überlegt: Wenn der Schuppen wirklich Dresdner Stollen und nicht irgendein gefälschtes Gemehle im Angebot gehabt hätte, wäre er jetzt wohl kaum am Ende. Qualität setzt sich ja durch. Oder?


Womit wir wieder bei meiner Person wären. Die vage Hoffnung, daß ich meinen weiblichen Stalkerclub durch die Fahrt hierher abschütteln könnte, erwies sich als haltlos. Frauenhände beschmieren Tisch und Wände oder wie in diesem Fall, Dachrinnen oder besser deren Fallröhren. Das sie meinen Namen dabei nicht mehr richtig schreiben können, ist der Tatsache geschuldet, daß mein Fanblock schon in der dritten Generation angelangt ist. Der Informationsfluß zwischen ihnen ist wohl leicht ins Stocken geraten. Anders kann ich mir diese, wohl rein rhetorisch gemeinten, Fragen nicht erklären. Sie sind nur mit »gut!« und »natürlich ja!« zu beantworten. Die Zeit, wie gesagt, spielt eben keine Rolle.


Dieses Festzelt erinnerte mich daran, daß wir uns immer noch auf dem Friedhof befinden. Wahrscheinlich wollen sie dort das Novemberfest der Volksmusik mit »’s ist Feierabend, ’s ist Feierabend, das Tagwerk ist vollbracht, ...« begehen. So mit Faßbieranstich, heiterem Urnenraten und einer Gräberfeldtombola. Was weiß ich, was hier in Berlin und in der Partyszene gerade in Mode oder schwer angesagt ist. Zutrauen würde ich denen hier alles – und mir natürlich auch. Ich hatte da eine Idee …


… und das Keyboard war schnell geholt und angestöpselt.
»Somewhere over the Rainbow ...«

Postdingsda: Im allgemeinen nehme ich Versprechen ernst und halte sie auch. Aber wie grüßt man eine Hauptstadt? Soll ich mich auf den Alex stellen und rumbrüllen? Nein. Ich rätselte herum, bis mein Blick auf dieses Kunstwerk fiel:


Also wählte ich auch die Schriftform:


Und siehe da! Es hat geklappt.

Sonntag, 10. Oktober 2010

düdeldüüü ... *g*


Falls sich jemand fragen sollte, was ich den ganzen Tag so mache – das würde mich auch mal interessieren. Egal.
Herbstzeit ist Reisezeit. Entweder ins eigene Ich oder nach Ostberlin. Einen prima Einkaufszettel habe ich dafür schon erstellt.

– Apfelsinen (keine Cuba-Orangen)
– Bananen
– Spee Color
– Berliner Pils
– Dresdner Stollen

Dazu müßten die zwei oder drei Tage reichen. Nebenbei bleibt vielleicht noch Zeit für eine Rundreise über die schönsten TÜP der Warschauer Vertragsstaaten im Umkreis der Frontstadt. Mal sehen. Morgen Mittag kommt das Shuttle. Also bis später.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Herbstzeitverstimmung


Nachkriegsaltneubaugebiet. Kaltgraubraunfeuchte, vernebelte morgendliche Endherbstverstimmung. Einzig, zwar einheitlich, bunt scheinen die gelben, quergestreiften, schaufensterlichen Warnbaken eines Verbrauchertempels zu sein.

»Sind die nicht mehr dicht oder was? Das gibts doch gar nicht!«

Ein Männel rüttelt energisch an der verschlossenen Kaufhallentür. Blauer Anorak, beige Bundfaltenhose, eine silbermetallgefaßte, leicht verschmierte Brille und spärliche, verklebte Haare. Er verkörpert für mich einen in den Herbstmodus geschalteten Kaninchenzüchter, der sich schon lange keine Karnickel mehr leisten kann.

»Die können doch nicht einfach nicht aufmachen? Keiner hat was gesagt und nicht mal ein Schild haben sie hingestellt, um Bescheid zu geben! So geht das doch nicht! Wieso machen die nicht auf?«

Vielleicht weil heute Sonntag ist, gebe ich zu bedenken.

»Sonntag? Heute? Stimmt! Mir war schon vorhin so komisch. Dem Nachbarn, Parterre, sein Auto stand ja noch da. Nicht, daß der verschlafen oder auch keine Arbeit mehr hat! Sonst bin ich ja nicht so früh unterwegs – aber heute ...«

Er schaute mich jetzt so an, wie man jemanden anschaut, der einen versteht und sich dabei beide zu vorgerückter Stunde in einer Stadtteilkneipe befinden. Dabei staune ich nur.

»Das ist doch der Einzigste in unserem Aufgang, der noch Arbeit hat. Die anderen sind doch Rentner oder schon lange nicht mehr dabei. Zu alt – mit Fünfzig! Das muß man sich mal vorstellen! Bis auf die »Jungsche« – zweiter Stock, ganz rechts. Aber die ist allein und hat zwei kleine Kinder. Drei und Fünf. Die kriegt doch auch nichts mehr.
Ein Geschrei ist dort manchmal ...«

Jetzt schaut er schwer philosophisch in das imaginäre Nichts.

»Sonntag – das ist eigentlich ein Tag wie jeder andere auch. Nur das ich da eben nichts einholen kann.«

Es folgt ein schelmisches, um Entschuldigung bittendes Grinsen, was einem etwas ratlosen aber lösungsorientierten Blick in die einkaufsmöglichkeitslose Realität weichen muß.

»Was mache ich denn nun? Ach, ich gehe zum Nachbarn mir was borgen. Dritter Stock mitte-links. Das ist doch auch ein alter DDR-Bürger – der hat sicher was gebunkert.«

Er nickt mir kurz zu – an seiner Brille sehe ich, daß es angefangen hat zu regnen – dreht sich um und steuert auf das nächstgelegene Wohnsilo zu.

Patsch, Patsch – und es regnet, regnet und regnet.

Sonntag, 3. Oktober 2010

versalzen, verkleistert, verformt, ver...


Geschichte schreiben geht so flott, wie das Plätzchenbacken. Man rührt ein paar unerläßliche Zutaten zusammen, knetet sie, bis sie eine homogene Masse bilden, die man dreht und wendet, um sie genüßlich auszuwalzen. Dann nimmt man gefällige, handgewerkelte Formen, sticht kleine Salzteigfigürchen aus dem Plattgewalzten und schiebt sie zur Haltbarmachung, als historisches Ereignis, in den Backofen des Zeitgeschmackes.
Manches mißlingt dabei. Es verbrennt zu Matsch. Aber mein alter Brieffreund Napoleon Bonaparte meint, daß dies nicht so schlimm wäre, da man sich über den Endsieg einigen kann, wenn man, daß unter den Tisch gefallene, als Vergleich, auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt.

Was dabei zählt und zählte, ist der olympische Gedanke: Dabei sein ist alles.

Salzteig:
– 1 Tasse Mehl
– 1 Tasse Salz
– 8–10 Esslöffel Wasser
– 1 Tasse Tapetenkleister
Die ausgebackenen Figuren können, nach Belieben, beklebt und angemalt werden, sie sind aber für den menschlichen Verzehr ungeeignet.