Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Dienstag, 18. Dezember 2012

Blickdicht 5


»Klingelingdöngdöngklingelingstörstör.«

Scheiß Telefon.

»Hallöchen! Wie geht es dir?«

Der alte Sack lebt noch. Kaum zu glauben. Letztens habe ich gesehen, wie ein Notarztwagen in eine Friedhofsmauer geknallt ist. Da mußte ich an ihn denken und hätte ihn beinahe angerufen.

»Sag mal: Könnte es, könnte es sein, daß ich meinen Schlüssel bei dir vergessen habe?«

Theoretisch ja, aber praktisch nicht. Der Knabe war das letzte Mal im Frühling hier zu Besuch.

»Ja, es ist schon ein Weilchen her, als ich das letztemal in Dresden und bei dir war. Das müßte schon ein halbes Jahr her sein.«

Sag ich doch. Es ist ewig her. Also wird der Schlüssel nicht hier sein. Er kann ja schlecht sechs Monate nicht zu Hause gewesen sein.

»Doch, doch! Guck doch mal. Vielleicht liegt er auf deinem Schreibtisch?«

Nach einem halben Jahr? Sicher ist, daß ich den Schreibtisch, sagen wir, etwas seltener aufräume aber sein Schlüssel wäre mir in der Zwischenzeit schon in die Hände gefallen.

»Laß mich überlegen. Ich war erst im Garten mein Fahrrad abstellen. Hinterm Schuppen habe ich es angeschlossen. Da hatte ich den Schlüssel noch.«

Logisch. Aber das Fahrrad ist weg. Also muß er den Schlüssel wieder mitgenommen haben.

»Nein, angeschlossen habe ich es mit meinem Zweitschlüssel und wieder abgeschlossen mit dem Erstschlüssel, den ich erst in der Neustadt holen war, nachdem ich bei dir war.«

Aha, jetzt schließt sich der Kreis. Seinen richtigen Schlüssel hat er bei einer Trude vergessen, war ihn holen und hat zum Ausgleich seinen Zweitschlüssel versiebt.

»So in etwa. Das Blöde war nur, daß ich dann abends, hier in Meißen beim Heinz, ein Bier trinken war und den richtigen Schlüssel auf dem Tresen vergessen habe. Vorbildlich wie ich bin, hatte ich das Fahrrad vor der Kneipe stehen gelassen und bin ohne Schlüssel nach Hause gelatscht.«

Um vor der verschlossenen Bude zu stehen. Herrlich.

»Zurück wollte ich nicht noch mal. Also habe ich den Nachbarn rausgeklingelt, der hat mich reingelassen und mir einen Schraubenzieher und eine Kneifzange geborgt.«

DDR-Vierpunktschloß. Blende abschrauben und mit der Kneifzange am Vierkantbolzen den Schnapper zurückziehen. Klappt prima, wenn die Tür nicht abgeschlossen, sondern nur zugefallen ist.

»Schließe ich nie ab. Wozu auch?«

Stimmt. In der Bude steht nichts. Ein Bett, ein Schrank, ein Couchtisch und ein Fernseher. Das klaut niemand.

»Das war die Nacht zum Sonntag. Montags hat der Heinz zu. Vor Dienstag abend brauchte ich dort also nicht aufzutauchen. Da habe ich einfach mein Küchenfenster einen Spalt offengelassen.«

Mal lüften ist sicher notwendig, nur klärt es die Schlüsselfrage nicht.

»Richtig. Aber mit dem offenen Fenster bin ich erstmal Montag abend wieder in meine Wohnung gekommen, ohne den Nachbarn rausklingeln zu müssen. Was sollte der denn von mir denken?«

Tja, was soll der schon denken. Vermutlich das, was er schon immer annimmt. Ding an der Waffel. Es würde mich nicht wundern, wenn der Knabe sich jetzt vom Nachbarn den Schuppenschlüssel geborgt hätte, um an eine Leiter zu kommen, damit er bei sich selbst einbrechen kann.

»Nein, Erdgeschoß. Unter meinem Fenster standen eine Regentonne und daneben eine Bank. Das ging ganz fix. Rauf auf die Bank, dann auf die Kante der Tonne – wenn die voll Wasser ist, kippelt die nicht – und am Fenster hochstemmen und in die Küche abrollen. Klappte prima.«

Oder abrutschen und in die Regentonne fallen. Klappte bestimmt auch prima.

»Nein, das ging schon. In dem halben Jahr bin ich nur fünf oder sechs Mal abgerutscht und reingefallen.«

Wie jetzt? Der Knabe ist ein halbes Jahr lang, statt durch die Wohnungstür, durch das Küchenfenster in seine Wohnung gelangt? Ich denke, der andere Schlüssel lag beim Heinz?

»Lag, richtig, lag. Der Heinz ist Sonntag nacht noch bei mir vorbeigefahren, um mir den Schlüssel zu bringen. Der dachte ja, ich sitze vor der Haustür und komme nicht rein. Als der in meiner Wohnung das Licht brennen sah, hat er den Schlüssel einfach in den Briefkasten geworfen, weil er dachte, daß ich noch einen Zweitschlüssel habe.«

So etwas gibt es nur in Meißen.

»Seitdem liegt der Schlüssel in meinem Briefkasten. Dort ist er sicher aber ich komme eben auch nicht an ihn heran. Erst mit dem Schlüssel, der hoffentlich noch bei dir liegt.«

Briefkasten aufbrechen? Mit dem Schraubenzieher vom Nachbarn?

»Der bringt mich um, wenn ich das täte. Dem gehört das Haus, der weiß von nichts und der guckt schon komisch, weil die Nachbarin über mir seitdem meine Post empfängt. Wir haben meinen Briefkasten zugeklebt und einen Zettel drangepappt, damit der Postbote meine Briefe bei ihr einwirft. Die weiß auch von nichts, traut sich aber auch nicht, mich danach zu fragen.«

Organisation ist eben alles. Und, wo genau liegt jetzt sein Problem? So, nach einem halben Jahr?

»Seit gestern sieht es einfach doof aus, wenn ich über das Küchenfenster in meine Wohnung krieche.«

Erst seit gestern? Wenn ich mir vorstelle, wie der alte Sack – seinen 50. Geburtstag haben wir schon vor Jahren gefeiert – von der Regentonne in seine Küche hechtet, um dort abzurollen, könnte ich schreien.

»Ja, seit gestern! Seit gestern liegt nämlich Schnee und der Hausbesitzer, mein Nachbar, hat die Bank und die Regentonne in den Schuppen geräumt.«

Also kommt der nicht mehr in seine Bude.

»Doch! Mit meinem Fahrrad!«

Aha, der hat sich aus Schnee eine Sprungschanze gebaut, nimmt Anlauf, spurtet mit dem Fahrrad über die Schanze und fliegt in sein Küchenfenster.

»Blödmann! Ich schiebe das Fahrrad unter das Fenster und steige über den Sattel bei mir ein. Es sieht nur doof aus, weil meine Spuren im Schnee nur zum Fenster hin- aber nicht zurückführen. Raus komme ich ja wieder durch die Haustür! Außerdem muß das Fahrrad nachts in den Schuppen, weil ich es nicht mehr anschließen kann. Ich habe ja keine Fahrradschloß mehr.«

Und vorher stand das Fahrrad, vorbildlich angeschlossen, beim Heinz vor der Kneipe.

»Richtig! Gestern hat mir der Heinz das Fahrrad mit seinem Seitenschneider für besondere Fälle wieder abgeschlossen. Ich kam ja nicht mehr in meine Wohnung!«

Ohne den Nachbarn, den Hausbesitzer, rauszuklingeln, der sowieso schon mißtrauisch ist.

»Der Heinz meinte, daß er das kennen würde und es käme öfter mal vor, daß er ein Fahrrad freischneiden muß, nur, daß es erst nach einem halben Jahr von ihm verlangt wurde, wäre neu. Der hat hinten im Lager einen ganzen Haufen mit kaputten Fahrradschlössern liegen.«

Und die hebt er auf, falls seine Kundschaft mal eins braucht. Meißen. Ohne Kommentar.

»Mensch, ich habe einfach nicht dran gedacht, dich nach meinem Schlüssel zu fragen. Immer, wenn ich nach Dresden wollte, kam etwas dazwischen oder ich habe es dort glatt vergessen. Aber jetzt brauche ich den Schlüssel! Würdest du bitte mal nachschauen?«

Und wo?

»Also, ich habe dann unten bei dir geklingelt. Du hast mich reingelassen und oben vor der Tür habe ich die Schuhe ausgezogen. Vielleicht liegt er neben dem Abtreter?«

Quatsch.

»Dann sind wir auf dem Balkon gegangen, um zu quatschen. Vielleicht liegt er noch dort auf dem Tisch?«

Nein. Liegt er nicht. Vorher pflegt der Knabe auch meinen Kühlschrank zu besuchen, um erstmal was zu essen und sich ein kaltes Bier zu genehmigen. Vielleicht hat er ihn dort reingeschmissen.

»Im Gemüsefach? Stimmt, dort liegt immer das Bier. Na, Gott sei Dank, ist der Schlüssel wieder da! Was bin ich froh! Mensch, wenn der weg gewesen wäre ... Sag mal: Mußt du heute nicht zufällig noch nach Meißen? Das paßt hervorragend! Da muß ich nicht mit dem Fahrrad, bei dem Schneetreiben, zu dir. Ich muß dann aber noch mal fort und ich weiß nicht, wie lange das dauern wird, ehe ich wieder zu Hause bin!«

Klar, ich schmeiß den Schlüssel, da er nicht zu Hause sein wird, um ihn persönlich zu empfangen, einfach in seinen Briefkasten.

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Blickdicht 4



Ein Gespenst geht um in Cotta/Löbtau. Das Gespenst der Einbruchskriminalität. Sagenhaft, wir werden Weltstadt!


Die Polizei sah diese Entwicklung, verständlicherweise, mit gemischten Gefühlen. Das Faß zum Überlaufen brachte dann diese orthographisch nicht korrekte Parole der mutmaßlichen Gangster. Wer hier wen fickt, bestimmt immer noch der Bulle selbst, ist die einmündige Meinung unserer Ordnungshüter. Diesen Schmierereien muß Einhalt geboten werden, untergraben sie doch das Ansehen der bewaffneten Organe der BRD.


Zu diesem Zwecke wurde von der Diensthundestaffel der Genosse Muchtar angefordert. Zu sehen ist er hier auf einem streng geheimen Übungsgelände, wie er sich für diverse Undercovereinsätze fit macht. Auf den ersten Blick könnte man ihn für ein Sofakissen oder eine degenerierte Qualzüchtung halten. Wehe dem, der darauf reinfällt.


Heute morgen ist mir dieses spektakuläre Photo geglückt. Es zeigt klar einen Fassadenkletterer auf Diebestour. Leider konnte er von den sofort alarmierten Einsatzkräften nicht gefaßt werden. Seine listige Tarnung als Weihnachtsmann sorgte bei den Beamten und dem Sondereinsatzhund für Irritationen. In dem entstandenem Durcheinander konnte er entkommen.

Personenbeschreibung
scheinbares Alter: 70 bis 85 Jahre
Größe: 20 bis 35cm, sportliche Gestalt
Bekleidung: rote Hose, roter Mantel, schwarze Stiefel, rote Kopfbedeckung
besondere Kennzeichen: weißer Bart

Die Polizei ermutet bei dem Täter eine Vergangenheit als Elitesoldat der Nationalen Volksarmee. Seine Fähigkeit, sich perfekt zu Tarnen und seine Kenntnisse im Häuserkampf deutet darauf hin.

Sachdienliche Hinweise bitte unter: 0162 6466679

Sonntag, 2. Dezember 2012

Blickdicht 3


»Magst du, möchten Sie einen Weinbrand? Zur Verdauung?«

Die 70er Jahres-Tapete, der Gummibaum, die Schrankwand aus dem Möbelprogramm Deutsche Werkstätten, das unvermeidliche bulgarische Keramikgeschirr und diverse Bleiglasvasen darin, der Raduga-Farbfernseher und die schwedisch grinsenden, bis auf den Teppich reichenden, Gardinen hatten mich umzingelt und drohten unverhohlen mich zu erdrücken. Nur die westverwandschaftsfreie Hausbar war mir freundlich gesinnt.

»Noch einen?«

Das Mittagessen kam ohne peinliche Kleckerflecken oder über die Tischdecke verstreuten Erbsen aus. Meine Begrüßungsblümchen waren adrett überreicht, staken endlich in einer original ungarischen Vase aus Zsolnayer Porzellan, die mir vorahnungsvoll wie eine Urne erschien, und meine, für diesen Anlaß frisch geputzten, Halbschuhe standen im Flur. Soweit war der Etikette Genüge getan.

»Einer geht noch!«

Aber die Kuh war noch nicht vom Eis. Die Kuh war noch nicht im Bett und ich nicht in ihrem. Ich tänzelte aber zielstrebig auf dem glatten Parkett davor.

»Gut. Du hast Recht. Ich darf doch Du zu Dir sagen? Auf mehr als drei Beinen ... drei reichen jetzt erstmal.«

Die Hausbar schloß sich und in des Hausherren Augen – wenn man eine Plattenbauwohnung, ein Fach im Schichtknödelregal, als Haus bezeichnen möchte – blitzte Anerkennung. Hart saufen konnte der Junge, aber er wußte auch, wann Schluß ist. Testbericht Ende. Seine Frau nickte, verdrehte die Augen und widmete sich in der Küche dem Abwasch.

Zimmer- und Tapetenwechsel. Weiße Erfurt-Rauhfasertapete. Zwei weiße Schränke. Vier Alpen- und Usambaraveilchen auf der Fensterbank; ein Nino de Angelo Plakat an der Wand, über der Tagesdecke ihres viel zu schmalen Bettes und eine verchromte Schreibtischleuchtstoffröhrenlampe verströmten den Charme eines Krankenhausflures für schlafwandelnde Komapatienten. Vor und hinter den frischgeputzten Scheiben tanzten Schneeflocken und die Eisprinzessin selbst häkelte in ihrem Sessel munter an einen Topflappen. Bis zu der mir angedrohten Überraschung war es noch eine Stunde Zeit. Häkeln, Schweigen, Maschen- und Schneeflockenzählen.

Wer ficken will, muß freundlich sein.

Nicht nur zum Objekt oder Projekt, sondern auch zu dessen Eltern. Vor allem in der kalten Jahreszeit galten gesonderte Spielregeln. Nicht jede Diskobekanntschaft war enthemmt genug, um einem, am elterlichen Schlafzimmer vorbei, in das eigene zu schleifen und die Schlagkraft des sozialen Wohnungsbauprogramms der DDR war für alleinstehende Jugendliche nicht spürbar. Was blieb, war der Antrittsbesuch, der Waffengang in die Höhle der Erzeuger der jungen Frau oder das scheinbar endlose Warten auf den viel zu kurzen Sommer mit seinen Zeltplätzen, Wiesen, Feldern, lauschigen Gärten, verträumten Waldlichtungen oder schnöden Hauseingängen und staubigen Bungalows. Ein Auto, was man entsprechend weihen konnte, besaß ich nicht einmal in meiner unbändigen und ungezügelten Phantasie. Ein Wagen mit Standheizung führte manchen auch direkt in die Klinik. Wartend, mit Schnittblumen und Orangensaft, vor den Kreißsaal. Da war auch der Altar nicht weit. Daran wagte ich nicht einmal zu denken. Mit einer Kinderkugel am Bein und einer Frau am Hals ließ es sich vortrefflich im seichten Ehehafen versinken und elendig verenden. Meine Misogamie war da der rettende Fels in der Brandung, die ich bevorzugte.

Der Saal im Kulturpalast tobte und brodelte vor Begeisterung. Ich brodelte nicht, allenfalls vor Wut und Empörung über diese Zumutung, und litt quer durch das Parkett. Der Bergsteigerchor »Kurt Schlosser« hatte zum Bergsingen geladen und den Reigen bunter Melodien mit dem »Omnibus« Kinderchor, dem Chor der »Deutschen Reichsbahn« und einer, von Funk und Fernsehen einschlägig bekannten und von mir gefürchteten, Schreckschraube als Moderatorin komplett gemacht. Überraschung! Überraschung! Überraschung!

Die Einladung zum Abendessen, zu ihnen nach Hause, war die elterliche Genehmigung, in ihrer Wohnung, in dem Kinderzimmer ihrer Tochter, zu übernachten. Den außerehelichen Geschlechtsverkehr mit ihr nahmen sie dabei billigend in Kauf. Ich hatte alles richtig gemacht. Oder alles falsch. Meinen Erfolg würgte ich wieder herunter. So blieb er mir nur im Halse stecken.

Meine Sehnsucht, das Abendmahl mit einem ausgiebigen Rundtrunk durch die Hausbar zu vollenden, erfüllte sich nicht. Der Hausherr sah mir wohl an, daß ich sie jetzt skrupellos geplündert hätte. Statt dessen lud er uns ein, gemeinsam den Samstagabend gemütlich vor dem Fernseher zu verbringen. Fernsehen der DDR. Ein Kessel Buntes ohne O.F. Weidling. In Gedanken war ich auf der Diskothek, die ich an dem Abend verpassen würde.

Die Zigarette danach rauchte ich davor. Draußen vor der Haustür. Im Schnee und in Besucherpantoffeln. Mein Objekt war im Bad, sich auf die Nacht vorbereiten. Die Tagesdecke lag dann im Dunkel, exakt quadratisch zusammengelegt, auf ihrem Sessel und ihr Fenster war zugezogen und fest verschlossen. Sie schlief schon, oder sie tat so, und ich war seltsamerweise darüber erleichtert.

Auf einem glatten Parkett zu bestehen, ist das Eine. Sich dabei auf der richtigen Party zu befinden, etwas völlig Anderes.