Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Dienstag, 29. November 2011

Rattenkampf – vierzehn


In seiner Pension duschte er und zog sich um. Jetzt war er wieder der gutaussehende Mann, der Eindruck hinterließ, und nicht der angepißte, stinkende Straßenköter, der sich durch sein Leben biß.
Er packte ein paar Sachen zusammen und legte sie neben seinen Laptop griffbereit auf die Bettcouch.
Wenn sein Plan schiefging, mußte er verschwinden. Nicht gänzlich, aber hier würde er nicht mehr ruhig schlafen können. Er muß jetzt zu der M. gehen und ihr reinen Wein einschenken. Wenn sie es schluckte, hatte er die ganze Nacht Zeit, mit ihr zu reden. Er hatte keine Angst davor. Nicht vor ihr. Er hatte nur Angst, daß sie ihn rausschmiß, ohne daß er sich erklären konnte.

Die Kerzen standen bereit und das Essen noch in der Küche. Sie hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gekocht und erstaunt festgestellt, daß es ihr Spaß machte. Wahrscheinlich kam es darauf an, für wen man in der Küche stand.
Morgen waren sie in den Staaten. Joe Blacks Leiche war von der Polizei freigegeben worden und eine Unterschrift von ihr genügte, um sie in die Schweiz überführen zu können. Auf dem Seeweg natürlich. Joe haßte das Meer und nun hatte er alle Zeit dieser Welt, seine Heimfahrt zu genießen.

Sie war guter Dinge, wie schon lange nicht mehr, und sie freute sich auf alles – auf ihn, auf das Essen mit ihm, die Nacht mit ihm und auf die Reise mit ihm.
Als er in der Tür stand, war sie glücklich. Er nicht. Er schien etwas bedrückt und niedergeschlagen zu sein. Aber sie beschloß, dies zu ignorieren. Nach dem Essen sieht die Welt für gewöhnlich anders aus; und sie hatten ja genug Zeit, darüber zu reden.

Die attraktive Frau um die 30 stand plötzlich im Zimmer, erschien unvermittelt, wie ein böser Geist. Als der Joker sie bemerkte, war es bereits zu spät. Er hätte sowieso nichts mehr tun können. Sie schoß sofort und das Hirn der M. spritzte gegen die Wand, noch bevor es zu Ende überlegen konnte, wo diese Frau plötzlich hergekommen war. So war der Fairness Genüge getan. Es gab nur noch sie und ihn.
Sein Hirn hatte keine Lust, zermatscht an der Wand zu enden und schaltete alle Regionen ab, die etwas mit Gefühl zu tun hatten. Er war eiskalt und in den Überlebensmodus geschaltet.
Er hätte sie erschießen sollen. Kein Hahn hätte mehr nach ihr gekräht. Die Polizei nicht, ihr Auftraggeber nicht und der Killer, der ihr auf den Fersen sein mußte, auch nicht.
Unaufgefordert ging er rückwärts zum Tresor, die Arme leicht nach außen gebogen und die Handflächen ihr zugewandt. Sie bedeutete ihm stehenzubleiben.
Seine Augen taxierten sie. Ihre Miene war angespannt, aber sonst ausdruckslos, und sie sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Als hätte es den Nachmittag und das Stundenhotel nicht gegeben. Sie ging um ihn herum und durchsuchte mit einer Hand die Fächer des Schreibtisches rund um den Tresor.
Sie tat gut daran, denn sie fand seine Waffe. Sie lag schon seit gestern Abend dort. Sie glich ihrer eigenen aufs Haar. Derselbe kurzläufige Revolver mit einer 7 Schuß Kammer und einem abgesägten Korn. Sogar die Patronen waren identisch. Sie ging den Weg zurück, ihre Waffe auf ihn gerichtet und darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen.
Dann ging es weiter in die Küche. Sie dirigierte ihn mit dem Lauf der Pistole. Er mußte ihr folgen. Am Besteckkasten angelangt, griff sie sich den Tresorschlüssel und warf ihm diesen zu.



Die Handschellen waren ein Witz. Das waren Billigteile aus dem BDSM-Zubehörhandel. Aber auch höherwertige, selbst solche, die die Polizei nutzte, waren schnell aufzubekommen.
Sie funktionieren alle nach demselben Prinzip. An einem Bügel ist ein Zahnkranz eingefräst. Schließt man die Schelle, ratscht eine bewegliche Sperre über den Zahnkreis, die sofort in ihn einklinkt, wenn man den Bügel wieder in die andere Richtung ziehen will, also die Fessel wieder lösen möchte. Der Schlüssel ist im Prinzip nur ein Haken, der die Sperre wieder nach oben drückt, damit diese den Zahnkranz freigibt.
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Sperre auch ohne Schlüssel aufzuhebeln. Entweder man bastelt sich aus einem festen Stück Draht – beliebt sind dafür Haar- oder Büroklemmen – einen Haken, den man direkt an der Schelle zurechtbiegen kann und benutzt ihn als Schlüssel. Oder man nimmt einen schmalen, leicht elastischen Plastikstreifen, führt ihn einfach seitlich in die Schelle ein und drückt ihn zwischen Sperre und Zahnkranz - das ist die schnellere und elegantere Lösung, wenn man über ein geeignetes Stück Plastik verfügt.
Sie hatte sogar zwei davon. Ihre Vorliebe für klassisch geschnittene Blusen, mit hochaufstehenden Kragen half ihr, sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Vorne im Kragen, rechts und links, waren zwei passende Streifen eingearbeitet, die diesen nach oben versteiften. Früher benutzte man statt Plastik- Pappstreifen, die man vor dem Waschen einfach herausziehen konnte, wie bei ihrer Bluse.
Der Joker hatte ihr die Hände nach vorn um das Bettgestell gefesselt, so daß sie problemlos an die Streifen kam. Sie war schon frei, als er sich draußen anschickte, daß Zimmer für drei weitere Tage zu bezahlen.

Sie war also schon mal in dieser Wohnung gewesen und hatte diese durchsucht. Das konnte nur während ihres Opernbesuches gewesen sein. Die hier verbauten Schlösser waren keine große Hürde. Den Tresorschlüssel hatte sie gefunden, aber ihr Photo mit Joe Black übersehen.
Sie machte viel zu viele Fehler, um in diesem Gewerbe alt werden zu können. Mit dem Rücken zur Sitzecke stehend, warf sie ihm den Tresorschlüssel zu.
Über ihre Schulter sah er, daß dieses Schwarz/Weiß Photo fehlte. Warum? Was wußte die M.? Er ahnte, daß es noch eine böse Überraschung geben würde. Das Bild war nicht zufällig verschwunden. Die M. hatte es abgenommen, damit er oder jemand anders es nicht zu sehen bekam. Nein, eher jemand anders. Die Bullen vielleicht. Das Kitschbild mit Goethes Hexeneinmaleins fehlte auch. In der Komposition der Bilder an der Wand klaffte ein Loch.
Darauf konnte er sich gar keinen Reim machen, aber seine dunklen Vorahnungen verdichteten sich.

Sie ging duschen, als er das Hotel verließ. Ihr Schlachtplan war klar. Sie würde im Park auf ihn warten. Dort im Gebüsch, wo sie schon einen halben Abend verbracht hatte. Er mußte noch einmal in die Pension zurückkommen, um sich umzuziehen. So in Jeans und Kapuzenshirt konnte er der M. nicht unter die Augen treten, das verschaffte ihr einen Zeitvorteil.
Fertig angezogen, nahm sie ihren Revolver aus dem Nachttisch. Die Patronen waren noch drin. Eine zog sie prüfend heraus. Er hatte sie nicht ausgetauscht. Warum sollte er auch? Er konnte nicht ahnen, daß sie sich so schnell befreien würde und ließ ihr die Chance, sich später eventuell ihren Weg freischießen zu können.
Seine Demütigungen waren nicht vergessen. Gerade in diesem Milieu, in dieser lausigen Gegend und diesem heruntergekommenen Hotel, schmerzten sie doppelt. Das hier kannte sie alles und sie haßte es. Sie haßte es, wie ihre versoffenen Eltern, die sie in so einem Umfeld haben groß werden lassen. Immer war dort einer stärker als sie und die Ratten kannten nichts anderes, als sich gegenseitig fertig zu machen.
Mit 15 Jahren gewann sie das erste Mal. Nicht gegen Gleichaltrige - darin war sie geübt - nein, gegen einen, der schon Mitte Zwanzig war. Sie war dabei, sie war gezwungen zu zusehen, was seine Freunde mit ihrer älteren Schwester machten. Die Brutalität war es nicht, die sie stark machte, die kannte sie, aber die Hilflosigkeit ihrer Schwester, dem ausgeliefert zu sein, schon. Zu oft hatte sie Ähnliches gesehen und war selbst, wie durch ein Wunder, bis jetzt davon verschont geblieben. Sie hätte es nicht ertragen und sie biß, sie riß ihm den Schwanz ab, als er es seinen Freunden gleich tun wollte.
Es stimmte schon. Täter suchten sich ihre Opfer nicht aus. Die Opfer boten sich an. Sie war keines, sie würde niemals eines sein.
Seine Pistole nahm sie mit. Es war ihr Startkapital in eine bessere Welt.
Madam M. mußte sterben. Das war sie dem Joker schuldig.



Sonntag, 27. November 2011

Rattenkampf – dreizehn


Sie goß sich nun doch einen Pernod ein. Ihre Telefonate waren überwiegend zufriedenstellend verlaufen. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes hatte sich schon wie ein Lauffeuer verbreitet und niemand machte einen Hehl daraus, mit welcher Freude die Nachricht aufgenommen wurde und man ging ganz selbstverständlich davon aus, daß sein Tod in ihr ebenfalls kein Herzdrücken hinterließ, was ja auch zutraf.
Alle Angerufenen sicherten ihr tatkräftige Hilfe bei der Unternehmensrettung zu. Uneigennützig war das keinesfalls. Jetzt, wo ihr Mann nicht mehr da war, drohte der Kessel zu explodieren, den er all die Jahre im Zaum halten konnte. Wenn sie ihr halfen, Licht in das Dickicht seiner Geschäfte zu bringen, retteten sie sich nicht nur selbst, sondern beabsichtigten auch, näher an seinen Futtertrog heranzurücken.
Die Karten wurden gerade neu gemischt und sie, die M., würde sie verteilen. Daß sie dabei Zugeständnisse machen mußte, war ihr klar.
Teile und herrsche! Das würde ihr Credo sein. Damit würde sie besser fahren als ihr egozentrischer Mann. Sein Absolutismus hatte ihn ins Grab gebracht. Sie schenkte sich nach und rief in der Schweiz an. Sie kannte dort einen netten kleinen Friedhof …



Der Joker wußte, wer sie war. Er hat es vielleicht nicht von Anfang an gewußt, aber spätestens, als er zu ihr in das Lokal kam. Er war nicht Macht seiner Gewohnheit dorthin gekommen, wie sie gehofft hatte; nein, er hat ihr eine Audienz gewährt.
Ohnmächtige Wut stieg in ihr hoch, aber sie war eine zu gute Schauspielerin, um es ihn merken zu lassen. Sie hatte ihm sowieso schon zu viel erzählt. Niemand ist vollkommen. Auch der Joker nicht. Er konnte ihr entweder zu hören und auf ihr Geplapper eingehen oder den Lügendetektor spielen. Beides zusammen ging nicht.
Er verhielt sich nicht so, als hätte er die Chance, eine attraktive junge Frau kennenzulernen. Er betrachtete sie nicht wie eine Frau, die ihm ihre Zuneigung antrug, sondern er beobachtete eine Laborratte. Sie war seine Ratte. Woher wußte er es? Egal, auch Ratten haben Zähne. Er war also im Bilde.
Warum war er dann hier? Weil er nicht wußte, was er tun sollte. Er konnte die Brisanz der Dokumente nicht einschätzen und mußte sie unbedingt zu Geld machen. Gut, sie hatte auch nur eine vage Vorstellung, um was für Unterlagen es sich handelte, aber sie kannte ihren Preis und hatte einen Abnehmer dafür.
Das Geld, was er ihr dafür geboten hatte, war nur ein Bruchteil von dem, was sie wirklich wert waren, aber es würde ausreichen, um die nächsten Jahre sorgenfrei leben zu können.
Daß sie untertauchen mußte, war ihr völlig klar. Sie hatte Joe erschießen müssen. Einen Mann, den sie verehrte und für den sie so etwas wie Zuneigung empfand. Auch er war ihr gegenüber nicht frei von Gefühlsregungen gewesen. Ein Umstand, der ihn erschreckte, den er aber zuließ.
Vorbei, er war tot und sie eine heiße Kartoffel, an der man sich die Finger verbrennen konnte. Daß der Joker zu ihr gekommen war, ließ sie hoffen, das Blatt noch wenden zu können. Sie spielte sein Spiel mit, hakte sich bei ihm unter und plapperte weiter auf ihn ein.

Für die beiden Polizisten war der Besuch bei Mac Donalds Besuch auch wenig erfreulich. Die Pommes waren matschig und fad, und bevor sie sich darüber beschweren konnten, lief ihnen dieser Kleindealer in die Hände, nach dem die Fahndung seit Monaten lief und die sie seit Monaten ignorierten. Er war noch ein halbes Kind, aber eben ein Dealer.
Sie schleiften ihn in ihren Dienstwagen, um ihn in einer Seitengasse wieder laufen, besser kriechen, zu lassen, denn sie schlugen ihn vorher krankenhausreif. Das war ihre Auffassung von Pädagogik und Strafvollzug.
Wenn sie ihn festnahmen, wäre er eine Stunde später wieder frei. Verurteilt werden würde er, wenn überhaupt, in drei bis vier Jahren und erst dann, wenn seine Straflatte so hoch war, daß sich ein Verfahren gegen ihn lohnte. Wer weiß, was er bis dahin noch alles anstellen würde. So bekam er eben regelmäßig Prügel.
Das machte ihn zwar nicht besser, aber die beiden hatten wenigstens das gute Gefühl, etwas getan zu haben. Als er sich an einer Hauswand blutig erbrach und in das Erbrochene zusammenrutschte, befanden sie, daß eben jeder so seine Probleme hatte und für heute der Gerechtigkeit Genüge getan war, und sie beschlossen, bis zum Dienstschluß im Revier Kaffee zu trinken.

Er war dabei, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Sein Übermut forderte seinen Tribut. Sie lag vor ihm. Nackt, und er hatte sie gevögelt. Hier in einem Stundenhotel, wo ihn keiner kannte. Es war nicht seine Idee. Sie hatte ihn hierher gelotst, in das Bett gezerrt und versucht, mit ihm Klartext zu reden. Er hat es geschehen lassen, weil er wissen wollte, wie weit sie gehen würde, um an die Unterlagen zu kommen. Dabei war ihm dies völlig klar.
Er wußte genau, wie es in seiner Laborratte aussah und hat ihre Verzweifelung genutzt, um sie noch zu demütigen. Sie hat ihn angebettelt und sie hat sich vor ihm erniedrigt – tiefer kann eine Frau nicht sinken.
Er war nur ein Verlierer, so erfolgreich er auch war, und letztendlich war er auch nur eine Ratte. Aber die Ratte, die gewonnen hatte. Das war der Unterschied.
Sie zu fesseln, war der größte Fehler seines Lebens. Ach, hätte er sie doch einfach erschossen. Gut, er war kein Killer. Ihr die Knie zu brechen, wäre ausreichend gewesen.

Die Handschellen fand er in der Schublade des Nachttisches – eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses. Sie wehrte sich nicht, als er sie ihr anlegte und sie damit an das Bett fesselte. Ihren Revolver legte er in die Nachttischschublade und das Zimmer bezahlte er noch für die nächsten drei Tage. Ehe man sie finden würde, wäre er schon über alle Berge, so hoffte er. In den Staaten, unerreichbar für sie.



Mittwoch, 23. November 2011

Rattenkampf – zwölf


Er sah sie sofort hinten in der Ecke sitzen. Von dort aus hatte sie den Überblick und saß gleichzeitig wie auf dem Präsentierteller. Nicht nur räumlich, auch durch ihre geschmackvolle Kleidung hob sich von ihrer Umgebung ab. An ihren Tisch würde sich kein Stadtteiltrinker verirren. Sie spielte in einer anderen Liga, das sah man ihr an und das wurde gewöhnlich von ihnen respektiert.
Nur er, als Mittler zwischen den Welten, konnte sich zu ihr setzen, ohne daß ein Raunen durch den Raum ging.
»Und? Heute schon jemanden über den Haufen gefahren?« Seinen Cheeseburger mit Pommes frites stellte er direkt vor ihr ab, als wollte er zu ihr sagen: Friß oder stirb. Den Laptop plazierte er so, daß vor ihm noch Platz für seine Cola war. Die Hälfte davon schüttete er in den Blumentopf am Fenster und füllte das Glas ungeniert mit dem frisch erworbenen Wodka vom Ukrainer wieder auf.
Er durfte sich nicht nur so benehmen, er mußte es. Seine Klientel erwartete dies von ihm.
 Sie wußte nicht so recht, was sie von seinem Auftritt halten sollte. Sie fühlte sich etwas überfahren und ihrer Führung beraubt. Das hatte er beabsichtigt.
Nachdem er die Wohnung der M. verlassen hatte, war er in seine Pension gelaufen, um sich umzuziehen. Den Laptop nahm er als Requisite mit. Darauf war nichts, was für andere interessant gewesen wäre. Nur fertige und halbfertige Lektoratsarbeiten wissenschaftlicher Natur und ein paar belanglose Mails.
Er wollte sie verunsichern und in die Ecke drängen, so daß sie anfing, Fehler zu machen. Fehler, die Rückschlüsse über das zuließen, was er von ihr wissen wollte.
Aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Sie zeigte sich äußerlich unbeeindruckt, plauderte brav über ihr Mißgeschick vom Vortag, ließ Komplimente an ihn einfließen und fragte ihn sogar nach Nebensächlichkeiten. Kurz, sie plapperte wie ein Wasserfall und wie mit einem alten Bekannten, und er hörte gar nicht hin.
Nein, er hörte schon auf das, was sie erzählte, aber er achtete mehr darauf, wie sie etwas sagte. Er analysierte ihren wechselnden Tonfall, die Tonfarbe, wie sie ihre Stimme hob und senkte, und verglich alles mit ihrer Körpersprache. Gerade diese sagte ihm mehr, als ihr lieb sein konnte.
Auf diese Dinge zu achten, sie bewußt wahrzunehmen, lehrte ihn sein Meister, und geübt hatte er es hier auf der Straße. Diese verzieh keine Fehler, aber sie beließ es bei einer gebrochenen Nase oder einer geklauten Brieftasche.
Was er aus ihr herauszulesen vermochte, war wenig amüsant. Er hatte Recht, die Frau hatte keine Zeit und sie war allein. Sie versuchte mit aller Macht, ihn für sich einzunehmen. Er ging darauf ein. Sie war ein ganz leckerer Käfer, hochintelligent, überaus charmant, und ihre laszive Ausstrahlung beeindruckte ihn.
Er konnte Joe Black gut verstehen. Sie verstand es, einem Mann um den Finger zu wickeln. Dabei blieb sie eiskalt und skrupellos.
Er mußte sich eingestehen, daß sie ihm gefiel. Sogar sehr gefiel. Sie würde niemandem gestatten, ihr persönlich näher zu kommen. Partnerschaften, welcher Art auch immer, ging sie völlig gefühllos ein. Sie würde besser in sein Leben passen als die M. An der konnte er sich verlieren, an der, die ihm gegenüber saß, nicht.
Wenn sie, gesetzt dem Fall, sie wären ein Paar, morgen verschwunden wäre, würde er es bedauern aber mehr auch nicht. Seine Gefühle würden apnoetauchen und nur gelegentlich die Wasseroberfläche erreichen.
 Aber der Fall würde nicht eintreffen, denn die Frau war so gut wie tot. Sie hatte Joe Black erschossen, da war er sich jetzt sicher. Das konnte nur im Affekt passiert sein. Vermutlich war er ihr auf die Schliche gekommen. Daß gegen ihn etwas lief, wußte er ja, sonst hätte er ihn schließlich nicht zu seiner Frau geschickt.
War es eine Kurzschlußreaktion, saß ihr die Polizei bereits im Nacken. Nach Joes Tod war sie in den Staaten von der Bildfläche verschwunden. Was lag also näher als sie zu verdächtigen?
Ob sie ihr den Mord nachweisen konnten, war fraglich, aber auch nicht wichtig. Sie war mit seinem Tod »verbrannt«, also für ihre Auftraggeber nutzlos geworden. Mit Sicherheit saß schon jemand im Flugzeug, der dafür sorgen sollte, daß sie dauerhaft die Klappe hielt, bevor die Polizei sie erwischte. Denn wer wußte schon, was sie sonst noch auf dem Kerbholz hatte und mit welchen Pfunden sie vor Gericht und mit der Polizei zu dealen gedachte, um sich selbst zu retten.
Ihre letzte Chance war es, die Dokumente herbeizuschaffen und an ihre Auftraggeber zu übergeben. Diese, davon konnte er ausgehen, würden sie benutzen, um mit Joes Imperium Tabula Rasa zu spielen, wenn sie es nicht sowieso schon taten. Aber sie würde sie nicht bekommen. Nicht von ihm. Das war ihm jetzt endlich klar.

»Ob wir das Haus beobachten lassen sollen?« Die beiden Polizisten standen unschlüssig unten auf der Straße.
»Was haben wir in der Hand, um das rechtfertigen zu können? Nichts!« Beide zündeten sich eine Zigarette an und beim Feuergeben verbrannte sich einer von ihnen die Finger.
»Nichts haben wir in der Hand. Gar nichts. Nur dieses Bild von seiner neuen Sekretärin, die wohl auch seine Geliebte war.« Beide schauten hilflos zu M.s Wohnung.
»Aber sie ist seitdem verschwunden«, warf der eine ein.
»Na und? Sie wird ja kaum seiner Ehefrau die Aufwartung machen«, gab der andere zu bedenken. Er klopfte ihm sacht mit der flachen Hand auf die Schulter und drängte ihn zum Gehen.
»Die Frau geht uns schon nicht durch die Lappen. Die Fahndung nach ihr ist über Interpol in Gange. Auch wenn wir nicht wissen, wie sie wirklich heißt, so ein hübscher Käfer prägt sich bei jedem Polizisten, der einmal das Bild hier gesehen hat, ein. Und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm. Genau genommen hat sie uns nur einen Gefallen getan. Ein Verbrecher weniger, an den wir nicht herangekommen wären. Komm, wir gehen Mittag essen. Heute ist Donnerstag. Da geht’s zu Mac Donalds.« Beide lachten, stiegen in ihren Dienstwagen und fuhren davon.

Die Polizisten sah er nur aus den Augenwinkeln. Sie stiegen in dem Moment aus ihrem Auto, als er mit ihr das Lokal verließ. Er konnte nicht wissen, wie nahe sie beide eben am Supergau vorbeigeschrammt waren. Nein, nur sie. Er hatte sie gerade erst kennengelernt, nachdem sie ihn gestern angefahren hatte. Damit war er aus dem Schneider.
 Aber sie säße bis zur Halskrause im Schlamassel. In ihrer Manteltasche verbarg sie ihre Kanone. Das war ein Fehler, der dem Joker nie unterlaufen wäre. Der war sauber, was nicht hieß, das er keine Waffe besaß.
Er hatte sogar mehrere davon und er kam schnell an eine heran, egal, wo er sich gerade befand. Wie er das anstellte, war sein bestgehütetes Geheimnis. Aber im Grunde bestand es nur daraus, weit vorauszudenken, genug Leute zu kennen, die keinen Verdacht schöpften, wenn er überraschend auftauchte, und seine Begabung zu nutzen, Offensichtliches unsichtbar machen zu können.
Jetzt galt es, die Frau neben ihm verschwinden zu lassen. Zumindest für die nächsten zwei Tage. Dann war sie Geschichte und nicht mehr sein Problem.




Sonntag, 20. November 2011

Rattenkampf – elf


Als sie aufwachte, schlief der Mann neben ihr noch. An diesen Anblick könnte sie sich wieder gewöhnen, stellte sie leicht wehmütig fest.
In der Küche kochte sie Kaffee und räumte seine noch nachträglich geleerte Flasche Wein grinsend weg. Für ihn war es sicher auch nicht einfach, einen anderen Menschen wieder an sich heran zu lassen. Immerhin schien er sich hier schon etwas heimisch zu fühlen. Den Korkenzieher hatte er wieder in das Besteckfach gelegt, das Glas in die Spüle und sogar der Aschenbecher war geleert.
Das sah gut für sie aus. Auch war er noch da und hatte sich nicht in der Nacht getrollt, wie ein räudiger Hund. Im Kühlschrank gab es nichts Neues. Das hieß nichts, außer ein paar Flaschen Pernod. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letztemal auch etwas zum Frühstück gegessen hatte. Ihm ging es sicher ähnlich, da würde der Kaffee reichen.
Bevor sie duschen ging, nahm sie das Bild mit Goethes Hexeneinmaleins von der Wand und legte es umgedreht oben auf den Küchenschrank.




Als er aufwachte, fühlte er sich befreiter als gestern Nacht. Er hörte die Dusche rauschen und brannte sich eine Zigarette an. Kaffeeduft wehte aus der Küche zu ihm herüber. So viel Normalität fand er sonst abschreckend und er verzog sich schnell wieder.
Heute war das anders. Daran könnte er sich gewöhnen. Das erste Mal in seinem Leben. Der Gedanke beunruhigte ihn nicht. Aber das, was ihn heute erwartete.
Heute galt es einen Entschluß fassen. Morgen wollte sie in die Staaten fahren, um Joe Blacks und ihre Angelegenheiten zu klären. Ihn hatte sie gebeten mitzukommen. Spontan hatte er zugesagt, aber es sogleich wieder bereut. Das hieße für ihn, Stellung zu beziehen und aus dem Dunkel zu treten.
Er wußte noch nicht, ob er diesen harten Schnitt wollte. So wie jetzt, konnte er nicht weitermachen. Das war ihm diese Nacht in der Küche bewußt geworden. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Und er war gerade dabei, dies zu tun.
Das Talent, bis ins hohe Alter seinen Job zu machen und dabei unentdeckt zu bleiben, wie es seinem Meister vergönnt war, hatte er wohl nicht. Sie hatten ihn entdeckt und sie hatte ihn gefunden.
Eine Frau, um die dreißig, also noch ein Frischling im Gewerbe.
Wie ihr das gelungen war, konnte er sich nicht erklären. Aber es gab nur zwei Möglichkeiten. Sie mußte sich entweder Joe Blacks Vertrauen erschlichen haben und Joe hatte ihn verraten – was sehr unwahrscheinlich war – oder nach Joes Tod hatten sie bei ihm etwas gefunden, was auf ihn hindeutete. Die Frau war ja nicht allein und nur ein Rädchen im Getriebe.
Wahrscheinlicher war, daß es der Konkurrenz – die zwei, drei Gegenspieler, die Joe Black noch hatte – gelungen war, außer ihr, noch einen Maulwurf in Joes Nähe zu plazieren.
Sicher hatten sie ein hohes Tier in seiner Firma einfach umgedreht. Die Bereitschaft die Seiten zu wechseln, erforderte nur eine gewisse Summe. Jeder Mensch hatte seinen Preis.
Joe Black hatte den seinen gekannt, so wie den von vielen anderen. Sei es, wie es sei.
Er mußte sich jetzt der jungen Frau widmen. Sie wollte etwas von ihm, also würde sie auf ihn zugehen. Er wußte auch, wo und wann sie geplant hatte, ihm rein zufällig über den Weg zu laufen – das lag auf der Hand – und er würde ihr den Gefallen tun und dort zu erscheinen.
Er mußte wissen, wieviel sie wußte. Von ihm, von den Dokumenten und seinem daraus resultierenden Marktwert. Sie würde mitspielen und versuchen, ihn zu kaufen.
Sie war allein hier – dessen war er sich sicher. Zu Zweit wären sie diese Nacht hier eingedrungen und hätten die Sache mit Waffengewalt geklärt, allein hätte sie kaum eine Chance gehabt, dies erfolgreich zu tun. Er selbst war immer unbewaffnet und ob die M. eine Waffe in der Wohnung verbarg, wußte er nicht. Aber er wußte, daß niemand so einen Überfall alleine wagen würde. Die, die es taten, gingen ein zu hohes Risiko ein.



In der Küche tranken sie ihren Kaffee schweigend und rauchten zu viel. Sie fühlten sich wohl. So, still, einander genügend.
Ihm fiel es schwer, jetzt zu gehen. Es war fast Mittag und die Kleine wartete auf ihn. Er hätte hier bleiben und auf seine innere Stimme hören sollen. Setz alles was du hast auf die M., schrie sie. So eine Chance bekommst du nie wieder!
Aber so schnell konnte er nicht aus seiner Haut heraus und er handelte nach seinen fest eingebrannten Verhaltensmustern. Diese ließen ihm keine Wahl.
Er verabschiedete sich mit dem Hinweis auf seinen normalen Job. Von irgendwas mußte er ja offiziell leben. Sie war sich sicher, daß er wieder kommen würde, ließ den Pernod im Kühlschrank und griff zum Telefon. Sie brauchte dringend Verbündete.



Der McDonald’s neben seinem Schnapsladen war weit unter ihrer Würde. Sie kam sich darin wie ein Fremdkörper vor. Diese Unterschicht an Schulschwänzern, Trinkern und sich langweilenden Hausfrauen war ihr zuwider.
Zu allem Überfluß mußte sie einen von diesen pappigen Hamburgern essen, die hier angeboten wurden, um nicht aufzufallen. Es war unglaublich, was sich manche Menschen antaten, nur um nicht zu Hause alleine Essen zu müssen.
Als ihr Streetworker wie vermutet eintrat, mußte sie beinahe laut lachen. Nichts von dieser mit Jeans, Kapuzenshirt und Laptop bewaffneten Person ließ einen Rückschluß auf den attraktiven, mit Schlips und Anzug gut gekleideten Mann zu, den sie Joker nannte und den sie gestern angefahren hatte. Es war frappierend, wie er die Rollen wechseln konnte.
Offiziell arbeitete er für eine Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, kriminelle Jugendliche und solche die es werden wollten, zu betreuen. Das Gehalt war so erbärmlich, das er nebenbei freiberuflich als Lektor für einen Fachbuchverlag arbeiten mußte. Das war clever eingefädelt.
Tagsüber konnte er sich frei bewegen und Auskünfte einholen, ohne daß dies auffiel. So getarnt konnte er sich überall sehen lassen. Abends zog er in Schlips und Kragen als Verlagsmitarbeiter seine Kreise enger. Dort traf er die Leute, die ihn tagsüber übersahen.
Sie hatte Glück. Der einzige Tisch, der nicht vom Geschmeiß vollständig eingenommen war, war ihrer, so daß er sich zu ihr setzen mußte.

Nach dem zweiten Telefonat klingelte es überraschend an ihrer Tür. Sie ließ die beiden Bullen von gestern ein.
»Kennen sie diese Frau?« Die zwei Polizisten kamen ohne Umschweife zur Sache und hielten ihr ein Photo entgegen. Aufgenommen wurde es von einer Überwachungskamera in einer Tiefgarage. Die Aufnahme war gestochen scharf, wie man es kaum von einer gewöhnlichen Videokamera erwarten konnte. Aber die Tiefgarage war auch nicht gewöhnlich. Es mußte Joe Blacks Garage sein, da wurde nur die teuerste und beste Technik installiert.
»Nein, sollte ich ...?«
Der eine Beamte verstaute das Bild wieder und der andere schüttelte leicht den Kopf. »Nein, aber es hätte ja sein können.«
Sie wanden sich zum Gehen. »Danke, das war es schon.« Der Polizist mit dem Bild hielt kurz inne.
»Hatte ihr Mann Feinde?« Diese Frage erheiterte sie dermaßen, daß sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Der andere Polizist winkte ab und beide wünschten ihr noch einen guten Tag.
Sie brannte sich eine Zigarette an und ihre Schritte führten sie in die Küche vor den Kühlschrank. Davor bremste sie sich ab, und ihr Blick suchte das einzige Schwarz/weiß Bild an ihrer Pinnwand. Sie nahm es ab und legte es hoch, auf den Küchenschrank zu Goethes Hexeneinmaleins.

Freitag, 18. November 2011

Rattenkampf – zehn


Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß und sie übereinander her.
Sie waren sich einig. Zumindest über das, was beide jetzt fest eingeplant hatten.
Sie waren ausgehungert. Ausgehungert nach Sex, Sex, Sex, und noch mal Sex. Ausgehungert nach Nähe, Zärtlichkeit und Liebe.
Sie waren gierig auf die Nähe eines Menschen, bei dem sie sich zu Hause fühlen konnten. Ihr Entzug davon währte schon viel zu lange. Viel zu lange, um alles sofort und auf einmal zulassen zu können.
Sie waren erst am Anfang eines langen Weges, an den beide nicht denken wollten.
Sie rieben sich aneinander, darauf bedacht, möglichst viel von dem anderen auf der eigenen Haut zu spüren.
Sie atmeten sich ein, hörten den anderen und ihre eigene Stimme, die zur Vorsicht mahnte, hörten weg oder doch zu und schafften es dabei nicht mal bis auf ihr Bett, wie es die Konvention forderte.
Sie implodierten noch halb angezogen auf dem roten Teppich im Flur.
Sie schleiften sich über Sessel, Tische und zerstörten die Blumenbank am Fenster, bis eine Flasche Rotwein zur Pause rief. Die Zigarette danach war die Zigarette davor und sie brachen nach drei weiteren Flaschen Wein über dem endlich erreichten Bett völlig ausgelaugt und ausgepumpt zusammen.
Sie sprachen kein Wort miteinander, aber sie erzählten sich viel und spürten ein kleines Fünkchen Glück im Zimmer. Hoch oben und für beide unerreichbar.
Als sie schlief, sah er, daß die Scheiben im Fenster von ihrer Hitze beschlagen waren und der Mond verschwommen auf sie schien, als hätte er sie zugedeckt.
Er beschloß, heute den Tresor in Ruhe zu lassen. Ihr Mann war tatsächlich tot. Er würde trotzdem noch ein paar Tage Zeit haben, ehe seine Mörder hier waren. Im Moment wußte er sowieso nicht, was  er machen sollte. Zu Frau M. überlaufen und ihr alles gestehen? Er war versucht, dies zu tun, aber das Risiko, daß sie ihn aus dem Rennen werfen würde, war zu groß. Nein, es mußte eine andere Lösung geben.
Die Flasche Wein neben dem Bett war leer und sein Schlafpegel noch nicht erreicht. In ihrer Küche entkorkte er sich einen neuen Beaujolais und musterte gedankenverloren deren Einrichtung. Gemütlich war sie. Nicht zu groß, aber groß genug für eine Sitzecke und einem Tisch, an welchem man zwanglos essen, reden und trinken konnte. Überall auf den Schränken standen Blumen und auf dem Herd ein paar Töpfe. Die Wände waren mit kleinen Bildern geschmückt. Darauf waren kitschige Blumen und kalligrafierte Sprüche.
Eines davon kannte er. Goethes Hexeneinmaleins. Ein Vers aus Faust mit dessen Hilfe das Hexlein einen Verjüngungstrunk braut. So gerechnet hatte womöglich der verstorbene Mann des Hauses seine Rechnungen geschrieben. Die Summe war immer gleich. Er mußte grinsen.
Die Flasche würde er noch austrinken, ein paar Zigaretten rauchen und dann an ihrer Seite wie ein Murmeltier schlafen, so tief und fest, wie schon lange nicht mehr. Morgen war ein neuer Tag und an dem sah die Welt vielleicht ganz anders aus. Er setzte sich an den Tisch, lehnte sich zurück und pustete den Rauch in kleinen Ringen durch die Luft.
An der Stirnseite des Tisches hing an der Wand eine große Pinnwand voll mit Ansichtskarten von jedem Ort der Welt, in denen schwerreiche Arschlöcher sich die Langeweile vertrieben. New York, St. Moritz, Dubai, St. Tropez und wie die Stätten des bunten Glitzers hießen.
Eine Karte errang seine Aufmerksamkeit. Sie war schwarz/weiß, auf alt gemacht und eigentlich eine Photographie. Sie zeigte eine lange Tafel und einem Mann, der gerade eine Rede zu halten schien. Am Tisch saßen dunkelgekleidete Männer und eine Frau. Den Mann kannte er gut und die Frau erkannte er wieder. Datiert wurde das Bild vor zwei Monaten und auf der Rückseite stand ein kurzer belangloser Text der mit den Worten endete: »Paß gut auf dich auf, mein Liebling.«
Er mußte sich wieder setzen. Sie waren schon hier. Hier in der Stadt. Die Killer, vor denen er die Dokumente schützen sollte.
Der Tresor war noch ungeöffnet. Die unberührte Staubschicht schimmerte matt im Licht seines Feuerzeugs und das Haar klemmte noch fest und an derselben Stelle.
Das hieß, daß sie den Tresor nicht öffnen konnten. Sie hatten die Zahlenkombination nicht, sonst wäre der Tresor jetzt leer. Ihren Ausflug heute Abend hätten sie genutzt, um ihn auszuräumen.
Das hieß aber auch, daß sein Kopf jetzt in der Schlinge hing. Der redehaltende Mann auf dem Photo war sein Klient, M.’s Mann. Die Frau neben ihm hatte ihn heute Mittag angefahren. Das war mit Sicherheit kein Zufall.
Sie war diejenige, die an die Dokumente wollte. Sie hatte man auf ihn angesetzt und sie wußte, wer er war und was er für eine Aufgabe hatte. Das hieß auch, daß sie wußte, daß nur noch er den Tresor öffnen konnte.
Beruhigend war diese Feststellung nicht gerade. Im Cafe nach dem Unfall kam sie ihm merkwürdig vertraut vor. Jetzt wußte er warum. Sie waren Kollegen. Er knipste das Licht aus und legte sich zu der M. Sie rückte dicht an ihn heran und begann wieder gleichmäßiger zu atmen.



Ihre Waffe war ein kurzläufiger, großkalibriger Revolver des Typs Nagant. Seine Konstruktion unterschied sich wesentlich von dem anderer Revolver. Er wurde gasdicht gebaut und konnte so wirksam mit einem Schalldämpfer ausgerüstet werden. Das Korn war abgefeilt, es störte nur und verfing sich im Stoff, wenn man die Pistole schnell aus einer Jacken- oder Manteltasche ziehen mußte und den Schalldämpfer konnte man einfach aufstecken und wieder abziehen.
Den Revolver ziehen, Schalldämpfer aufstecken, schießen, Schalldämpfer abziehen und beides wieder verschwinden lassen dauerte nur Sekunden. Sie war geübt und schnell darin.
Der Revolver war bei Professionellen die erste Wahl, weil er einfacher gebaut und damit zuverlässiger war als jede Pistole. Die leeren Patronenhülsen werden nicht ausgeworfen, wie bei einer Pistole und verbleiben somit nicht am Tatort. Der kurze Lauf und das fehlende Visier machten zwar einen gezielten Schuß über größere Distanzen unmöglich, aber dieser war gar nicht notwendig. Geschossen wurde nur aus unmittelbarer Nähe oder die Waffe entlud sich durch einen aufgesetzten Schuß direkt in den Körper des Opfers.
Die sieben Schuß, die ihre Patronenkammer faßte, waren dafür mehr als ausreichend. Geladen war die Waffe mit 7,62 x 38 mm Nagant Patronen. Diese beschleunigten die Kugel nicht auf Überschallgeschwindigkeit, wie sonst üblich, sondern sie beließen es bei 270 bis 290 m/s. Das hatte den Vorteil, daß der Schuß sich besonders leise aus der Waffe lösen konnte.
Der Schalldämpfer kann nur den Knall eindämmen, den die Treibladung bei ihrer Explosion verursacht. Aber nicht den, den die Kugel hervorruft, wenn sie durch die Schallmauer rauscht, da das erst passiert, wenn sie die Waffe verläßt. Ist sie langsamer als der Schall, unterbleibt der Knall.
 Die fehlende kinetische Energie, die sich durch diese langsame Geschwindigkeit ergibt, gleicht die Kugel durch das große Kaliber aus. Ein aufgesetzter Schuß durch diese Waffe war nicht nur kaum hörbar, sondern er hinterließ auch viel Blut an der Wand hinter dem Opfer.
Sie steckte ihren Revolver wieder weg. Hier im Park wurde er nur naß und die sorgsam mit Öl gepflegte Brünierung würde braune Flecken bekommen.
Nur mühsam konnte sie ihre Ungeduld unterdrücken. Am liebsten wäre sie jetzt wieder in die Wohnung der M. eingedrungen und hätte die beiden im Schlaf überrascht. Unter vorgezogener Waffe wäre es vielleicht möglich, den Joker zu überreden, für sie den Tresor zu öffnen. Zwei gegen Einen und sie gegen den Joker. Nein, das Risiko zu unterliegen mußte sie jetzt noch nicht eingehen. Little Big Joe Black hatte ihn nicht umsonst ausgewählt, um seine Unterlagen zu schützen.
Der Mann war ihr sowieso unheimlich. Sie hatte den Nachmittag genutzt, um etwas mehr über ihn zu erfahren. Das was sie ermitteln konnte, paßte überhaupt nicht auf den Kerl da oben. Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder Mr. Joker. Im Moment war er wohl Mr. Hyde. Ihre Nase lief und die Nässe und Kälte konnte sie nicht länger ignorieren. Sie mußte sich jetzt zurückziehen und wählte dabei den Weg durch den Park, auf dem die Bäume durch das helle Mondlicht einen Schatten warfen. So war sie durch zufällige Beobachter unsichtbar.
Morgen würde sie dem Joker über dem Weg laufen. Ganz wohl war ihr nicht bei dem Gedanken. Aber sie hatte keine Wahl. Den Schlüssel zu einer besseren Welt hatte er. Daß er von ihr nichts wußte, beruhigte sie etwas. So konnte sie sich unentdeckt zurückziehen, wenn sie annehmen mußte, daß dieser Weg zu nichts führte und sie es später, auf die harte Tour, durchziehen mußte.
Der Mensch war ein Gewohnheitstier und er war da sicher keine Ausnahme. Wo und wann sie ihn sehen würde, lag auf der Hand.



Mittwoch, 16. November 2011

Rattenkampf – neun


Genau das hatte sie erwartet. Eine Luxuswohnung mit Geschmack, aber fehlendem Eigenleben. Die scheinbare Unordnung war wohldosiert und sollte Gemütlichkeit vortäuschen. Ihr zu Hause würde einmal anders aussehen, das schwor sie sich.
Sie haßte diesen Prunk. Aus jeder Ritze, aus jedem Möbelstück schien Geld zu quellen, das darauf aus war, den Gast zu erschlagen. Sie widerstand der Versuchung, sich in dieses Riesensofa zu setzen, sich dabei etwas auszuruhen und aufzuwärmen.
Deswegen war sie nicht hier. Sie hatte Glück. Die Concierge hatte ihre Loge verlassen, und durch die Haustür war sie ganz selbstverständlich mit einer älteren, halbblinden Dame, einer Hausbewohnerin, gekommen. Die Wohnungstür war ebenfalls kein Hindernis. Das Schloß war alt und ausgeleiert, was es schon beinahe wieder schwierig machte, ihren »Universalschlüssel« korrekt anzusetzen.
Nachdem sie gesehen hatte, wie beide das Haus verließen, hatte sie lange überlegt, ob sie das Risiko eingehen konnte, bei der M. einzubrechen. Aber sie mußte irgendetwas tun und konnte nicht länger warten.
Den »Blindsafe« hatte sie schnell gefunden. Der war hinter einem Bild in die Wand eingelassen -  und es soll Einbrecher geben, die auf so etwas hereinfallen. Besser versteckt war der richtige Tresor. Fest in ihrem massiven Schreibtisch verankert und unter einer Intarsientür verborgen, war er viel schwerer zu entdecken.
Das letzte Mal war er vor wenigstens einem halben Jahr geöffnet worden, denn der Staubfilm auf ihm war unberührt. Eine kaum zu sehende Haarsicherung war auch noch intakt. Ging die Tür auf, mußte das Haar unbemerkt nach unten fallen; und derjenige, der es angebracht hatte, wußte, daß der Tresor sein Geheimnis preisgegeben hatte.
Das war die Handschrift Joe Blacks. Den Tresorschlüssel fand sie in der Küche im Besteckkasten. Aber ohne die Zahlenkombination war er nutzlos, und einen Hinweis auf diese konnte sie nicht entdecken. Sie mußte hier irgendwo sein. Für jeden sichtbar, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar. Nach einer halben Stunde gab sie auf.
Sie hatte keine Chance, das Rätsel ohne einen Ansatz oder Hinweis zu lösen und sie setzte jetzt ausschließlich auf den Joker. Als sie die Wohnung verließ, ahnte sie nicht, was sie übersehen und welchen Fehler sie damit begangen hatte.

Das Opernhaus war nicht gerade das, was man altehrwürdig nennen würde, aber dennoch stilvoll ausgestattet und von innen deutlich sehenswerter als von außen. Das befanden sie beide, als sie sich während einer Pause an einem der zahlreichen Stehtische im Gang hinter den oberen Rängen bei einem Glas Rotwein, für Außenstehende im Stile eines alten Ehepaares, unterhielten.
Ihr wäre ein standesgemäßer Drink willkommener gewesen, jedoch tranken sie aus irgendeinem fremdbestimmt wirkenden Grund wie alle Umstehenden Wein. Für den Moment mußte das also reichen, um nicht irgendwie aus der Reihe zu tanzen. Ihm war das eher recht denn wenn alles nach Plan verlaufen sollte, war das Letzte was er brauchte, die warme Decke eines ansonsten als barmherzig empfundenen Rauschzustands.
So standen sie und sprachen eine Weile gar nicht.
»Feuer?« antwortete er mehr, als er fragte und hielt ihr die Flamme vor die Zigarette. Sie sog den ersten Zug gierig ein, während er sich selbst eine aus seiner Packung fischte und anzündete. Er hatte sich seit längerem vorgenommen, endlich mal das Rauchen einzustellen, oder zumindest auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Er mußte lächeln. »Gesundes Maß« schien nur eine Redewendung zu sein - nein, sie war es wirklich. Die glühenden Spitzen der Zigaretten näherten sich den Filtern, wie die wild glühenden Ausläufer eines tosenden Vulkans, denn die Pause währte nicht ewig und die Sucht, nach Nikotin, nach der rauschenden Befriedigung an sich, mußte gestillt werden; schließlich drückten sie die Stummel aus, leerten die Reste ihrer Gläser und kehrten schweigend, aber vertraut zweisam, zur Vorstellung zurück.
Gesprochen hatten sie nicht viel, aber manchmal bedarf es keiner umschweifenden Worte, um einander nah zu sein. Dachte sie zumindest, wenngleich der frivole Drang nach einem anständigen Drink ihre Kehle umgriff, wie ein Mörder in einer finsteren Gasse.
Der Vorhang, groß, schwer, aus blauem Samt, öffnete sich wieder, ein paar letzte Leute räusperten sich, flüsterten hier und dort; zeitgleich erklang ein schwerer Ton und die Vorstellung fand ihre Fortsetzung.



Vierter Akt. Mélisande und Pelléas verabschieden sich voneinander. Getragen von sphärischen, eher beruhigend wirkenden Klängen. Diese Beruhigung nahmen beide wohlwollend in Empfang, die musikalische Stille des Moments könnte nach beider Empfinden ewig währen und sie wußten, daß der jeweils andere das Gleiche dachte.
Der Rest des vierten Aktes, ebenso der fünfte Akt samt Finale, welchem ein zwar verhaltener, aber lang anhaltender Applaus folgte, verflogen gefühlt schneller als die vorangegangenen Teile der Oper. Nur noch wenige Menschen befanden sich in der Nähe ihrer Sitze, als sie sich erhoben.
Im seltsam modern, pseudomodern, wie er es gern nannte, eingerichteten Foyer des Opernhauses fragte er dann kurz: »Geht es?«.
»Geht was?«, fragte sie in etwas schroffer Tonart, was ihn augenblicklich zu verunsichern schien.
»Ich meine ... dein Mann. Was weißt du darüber?«, erkundigte er sich eher aus automatischer Neugier als empfundenem Beileid und fügte beschwichtigend an: »Wenn du darüber sprechen möchtest...«.
Sie überlegte einen Moment lang, erwiderte dann: »Schon gut. Jetzt lieber nicht.«, was er mit einem Nicken quittierte. Sie würde ihre Gründe haben, da war er sich sicher, todsicher.
Er unterdrückte ein Schmunzeln und orderte ungefragt zwei weitere Gläser Wein. Nach dem mittlerweile überflüssig wirkenden Procedere – scheinbar verliebter Blick in die Augen, auf dein Wohl, nein auf deines, na gut, auf unseres, gefolgt von kindischem Kichern - näherten sich die Lippen, mehr der schnellen Flucht als dem Genuß verpflichtet, den Gläsern, um diese Minuten später geleert neben dem, sich scheinbar antiproportional füllenden, Aschenbecher abzustellen.
»War schön«, gab sie zu verstehen.
»Mélisande, Pelléas, oder der ganze Abend?«, witzelte er.
»Mélisande und Pelléas … der Abend ist ja noch nicht zu Ende und du weißt doch, daß man ihn nicht vorzeitig loben sollte. Ach nein, das war der Tag... egal, du weißt schon, was ich meine.« Sie lachten.
»Weiß ich das?«, fragte er spitzbübisch, und sie schritten die letzten Stufen zum Ausgang hinab. Draußen war es noch ungemütlicher geworden. Der Nieselregen war praktisch derselbe, jedoch hatte die anfängliche Kühle einer unbarmherzigen Kälte Platz gemacht.


Montag, 14. November 2011

Rattenkampf – acht


Schließlich half er ihr im Stile eines echten Gentleman in den Mantel; und kurz nach Verlassen des Lokals fuhr auch schon der von ihm an der Metro bestellte Wagen mit Chauffeur vor. Perfekt, denn ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und es begann unangenehm kühl zu werden – auf keinen Fall ein Wetter, bei dem man gern vor einem Restaurant auf irgendetwas wartet. Aber das hatte sich ja nun erledigt.
»Zur Oper!« ließ er den Fahrer, einen drahtigen, älteren Mann mit weißem Haar und Schnauzbart, kurz und bündig wissen. Sie nickte dem Chauffeur zu, der ihr die Wagentür aufhielt; und sie genoß es, daß er sich ihretwegen so sehr in Unkosten gestürzt hatte. Sie stieg schweigend ein und ließ sich, schweigend, von ihm entführen.
Nur einmal unterbrach sie die einvernehmliche Stille. »Mein Mann ist tot. Erschossen.« flüsterte sie fast und sah ihn dabei nicht an. Er zuckte nur kurz und kaum merklich zusammen, sagte nichts und sie konnte spüren, wie es in ihm arbeitete. Eine andere Reaktion hatte sie nicht erwartet, und sie wußte nicht, warum. Oder sie wollte es nicht wissen.

Ihr Angetrauter entpuppte sich als eiskalter Rechner und skrupelloser Geschäftsmann, dem weder ihr Vater noch ihr Onkel gewachsen waren, was er aber perfekt zu verbergen verstand.
 Seiner Umwelt präsentierte er sich als Gönner, Sunnyboy und guter Onkel von nebenan. In dieser Rolle ging er auf; und die Welt schätzte ihn als großzügigen Mäzen und hilfsbereiten Menschen, der für eine gute Sache all seine Beziehungen spielen ließ und der bereit zu sein schien, sein letztes Hemd dafür herzugeben, wenn es die Umstände erforderten.
Aber wehe dem Geschäftspartner, der auf ihn hereinfiel und glaubte, ihn über den Tisch ziehen zu können. Nichts haßte er so sehr, als wenn man seine Intelligenz unterschätzte und annahm, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Dann konnte man von Glück reden, völlig mittellos in der Gosse, aber am Leben, aufzuwachen.
In einschlägigen Kreisen nannte man ihn bald »Little Big Joe Black«. Es waren einfach zu viele Menschen ums Leben gekommen, nachdem sie seinen Weg gekreuzt hatten, um noch an einen Zufall glauben zu können. Offiziell verdächtigt wurde er nie. Nur sie ahnte langsam, wer ihre Familie auf dem Gewissen hatte, wenn man in seinem Fall überhaupt von so etwas wie einem Gewissen sprechen konnte.
Überraschend erkrankte auch ihr Onkel nach ihrer Hochzeit mit Joe sehr schwer und hauchte sein Leben in einem Schweizer Sanatorium aus. Humor hatte ihr Mann, das konnte sie ihm nicht absprechen.
Die Erkenntnis, daß er dahinter stecken mußte, kam zu der Zeit, als sie schon tief in die bis heute andauernde Lethargie gefallen war. Erst war sie zutiefst gedemütigt, weil er sie nur als Spielball gesehen hatte und sie mit fliegenden Fahnen in seine Falle getappt war, dann gewöhnte sie sich an den Gedanken und fand sich damit ab.
Das Einzige, wozu sie sich noch aufraffen konnte, war, ihm eine böse Überraschung zu bereiten – für den Fall, daß sie ebenfalls nicht an Altersschwäche sterben, sondern plötzlich und unerwartet mit den Füßen voran aus einem Schweizer Sanatorium getragen werden würde. Für mehr reichte ihre Kraft nicht.
Vielleicht hoffte sie, daß die heilige Gerechtigkeit für Ordnung sorgen würde und er eine gerechte Strafe bekäme. Aber die ließ auf sich warten und ihrem Mann gelang scheinbar alles.
Unbeschadet überstand er verschiedene Bestechungsskandale, Subventionsbetrugsvorwürfe; und selbst der Makel, in der dritten Welt fleißige Kinderhände für sich arbeiten zu lassen, glitt von ihm ab, wie die Wasserperlen eines warmen Regens von einem Lotusblatt.
Dafür gab es viele Gründe. Er handelte immer sehr besonnen, schmierte selbst Gott und den Teufel, und hatte somit die öffentliche Meinung stets hinter sich. Desweiteren beschäftigte er sich nicht mit Belangen, für die die Mafia zuständig war. Dazu gehörten Prostitution, Drogen, Glücksspiel, Schutzgelderpressungen und das Baugewerbe. Mit Waffen handelte er auch nicht. Er verschenkte sie, wenn er einen Posten günstig angeboten bekam, an rivalisierende afrikanische Warlords, die IRA, die ETA oder die Mafia selbst.
Dieser offensichtlich kriminelle Geschäftsbereich war unter seinem Niveau und er belächelte die, die ihn bedienten, als wären sie geistig zurückgebliebene Kinder, die an der Errichtung einer Sandburg scheiterten.
Um eine andere Spezies, die der ehrlichen Unternehmer, die es hier und da noch gab, machte er einen großen Bogen. Vermutlich, weil er sie nicht verstand, nicht einzuschätzen vermochte und sie ihm daher suspekt erschienen.
Seine weiße Weste bekam nie ihre verdienten schwarzen Flecken. Sie würde seinen Namen rein halten, ihn in Ehren beerdigen, auf einem Schweizer Friedhof, und sich nach etwas anderem Geschäftsführenden umsehen oder den ganzen Laden meistbietend verkaufen. Das käme zwar einem Totalverlust gleich, aber dessen ungeachtet reichte ihr persönliches Barvermögen locker für drei sorgenfreie Leben.
Nein, ein Rückzug kam nicht in Frage. Schließlich war es ihr Geld, ihr Einfluß, den sie nicht der Konkurrenz in den Rachen werfen konnte. Sie brauchte dringend Verbündete, die sich mit der Materie auskannten und denen sie vertrauen konnte. Nur, wo bekam sie die jetzt her?
Es mußte schnell gehen. Den Tod ihres Mannes würde alle Welt dazu nutzen, wie die Piranhas – die Ratten der Flüsse – über seine Hinterlassenschaft herzufallen. Um Verluste würde sie nicht herumkommen, aber diese waren zu verschmerzen.
Langsam erwachte sie aus ihrer Lethargie und fühlte, wie ihre neue Aufgabe anfing, Spaß zu machen. Jetzt war sie gefordert und ihr Lebensinhalt würde zukünftig darin liegen, dem Rest der Geschäftswelt auf die habgierigen Finger zu klopfen.
Hierfür würde sie morgen ein paar Anrufe tätigen und übermorgen in die Staaten fliegen, um vor Ort zu sehen, was sie tun konnte. Eine männliche Begleitung, eine, die etwas hermachte und Eindruck hinterließ, konnte ihr dabei sehr hilfreich sein. Sie wußte auch schon, wen sie mitnehmen würde. Lächelnd glitt ihr Blick auf ihren abwesend aus dem Fenster sehenden Begleiter.
Kaum einen Gedanken widmete sie seinem Mörder. Es mußte eine Kurzschlußreaktion gewesen sein – nichts von langer Hand Geplantes. In einer Tiefgarage schoß man nicht. Der Schuß war weiter zu hören als in einem Flur oder Zimmer, die Gefahr, unverhofft mit Zeugen konfrontiert zu werden, war viel zu groß, es gab kaum einen Fluchtweg und außerdem hingen überall Überwachungskameras – ungesehen kam man da unten nicht davon.

Sie betraten das Opernhaus auf roten, wie endlose ausgestreckte Zungen wirkenden Teppichen und glitten in ihre Sitze. Gute Sicht, Balkon, gehobene Preisklasse.
Er erzählte ihr, was er an Informationen über Debussy gesammelt hatte. Er war sich nicht ganz sicher, vermutete jedoch, nein, er wußte, daß ihr Wissen über den französischen Komponisten praktisch bei Null lag, was ihm zu der Möglichkeit verhalf, den kulturbewanderten Mann von Welt heraushängen zu lassen.
»Habe ich dir schon erzählt, daß er niemals eine Schule besucht hat?« versuchte er ihr zu erklären. Sie schüttelte stumm ihren, wie er fand, sehr gut frisierten Kopf. Er schwadronierte noch etwas über die künstlerische Beziehung zwischen Ravel und Debussy, als sich der Vorhang endlich öffnete – so langsam ging ihm das Halbwissen aus.
Während des zweiten Akts bemerkte er ein leichtes Zittern der Hand, welche er seit Beginn der Vorstellung hielt. »Tut mir leid, die Sache mit deinem Mann. Sei stark!« flüsterte er ihr zu und versuchte ihre Hand zu streicheln, welche sich daraufhin verkrampfte. Eine Antwort blieb aus, sie atmete jedoch tief ein und scheinbar noch tiefer wieder aus, was er als dankbare Geste empfand.

Samstag, 12. November 2011

Rattenkampf - sieben


Das Erbe war rasch verteilt. Ihr gehörten zwei Drittel und ihr Onkel bekam den Rest. Hocherfreut übernahm er auch die Geschäfte ihres Vaters. Aber so sehr er sich auch bemühte, an dessen Erfolge anzuknüpfen – es gelang ihm nicht. Auch er wurde immer lichtscheuer, und man bekam ihn nur noch selten zu sehen.
Als eine große Hilfe erwies sich der Privatsekretär des Verblichenen. Ohne ihn wäre er in dem Dschungel der Firmengeflechte und Teilhaberschaften hoffnungslos untergegangen. Es gab keine Unterlagen mehr und die, die er sichten konnte, brachten kein Licht in das Dunkel der Geschäftsgebaren ihres Vaters.
Eines Abends stand er dann völlig unerwartet und aufgelöst vor ihrer Tür, um mit ihr über die gemeinsamen Unternehmen reden zu wollen. Er war nervös und schlug ihr einen seltsamen Handel vor. Er hatte die Absicht, sich aus den Geschäften zurückzuziehen und die ihm gehörenden Anteile auf sie zu übertragen. Sie wäre dann die Alleinbesitzerin von Allem, was ihr Vater besaß. Im Gegenzug wäre er mit einer monatlich zu zahlenden Summe, die 30% der Zinserträge des Barvermögens betragen sollte, auf Lebenszeit zufrieden.
Sie war damals von seinem Ansinnen sehr überrascht und bat sich eine Bedenkzeit aus, worauf er sofort einging und ihr außerdem vorschlug, den Sekretär ihres Vaters als Teilhaber zu übernehmen und ihm die Geschäfte zu übertragen.
Damals hatte sie sich von ihrem Zusammenbruch halbwegs erholt und ihr Leben in geordnete Bahnen zu bringen. Selbst leiten konnte sie die Firma nicht, daß war ihr völlig klar. Das überstieg bei weitem ihre Möglichkeiten. Einem Mann als Teilhaber, der noch dazu ihre Geschäfte führen sollte, konnte sie allerdings nicht vertrauen.
Eine andere Lösung mußte her, mit der sie alle Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte. Sie stimmte den Vorschlag ihres Onkels, was die Leibrente betraf, zu, auch wenn ihr die Höhe der Summe den Atem nahm. Daß er damit auf einen Großteil der ihm zustehenden Einnahmen verzichtete, war ihr klar – aber warum er dies tat, war ihr ein Rätsel.
Den gepriesenen Sekretär heiratete sie kurzerhand. Damit stand ihrem geordneten Leben und ihrer gesellschaftlichen Reputation – ihre Jugendsünden waren mit der Hochzeit weitestgehend verjährt und verziehen – nichts mehr im Weg, und ihrem frischgebackenen Mann eröffnete sich der Weg in Kreise zu denen ihm sonst der Zugang verwehrt geblieben wäre.
Natürlich mußte er einen Ehevertrag schlucken, den sie aber als fair betrachtete. Im Falle einer Scheidung blieb ihm ein bißchen vom Zugewinn und sonst nichts.
Wie sie später erfahren mußte, war der Vertrag eine Farce und nichts wert. Er hätte ihr gesamtes Vermögen »verschwinden« und sie geschröpft bis auf das Hemd im Regen stehen lassen können. Wie naiv sie doch in derlei Dingen war! Aber das tat er nicht. Im Gegenteil. Er war dort angekommen, wo er hin wollte. Er hatte eine gebildete, höchst attraktive Frau geheiratet, die in dem Ruf stand, von einem Mann nicht gebändigt werden zu können und die ihm die Tür in die große weite Welt öffnete. Ohne sie war er nur ein billiger Geschäftsmann, mit ihr der prominente Global-Player. Was konnte er mehr wollen?
In Bezug auf den Umgang mit dem anderen Geschlecht ließen sie sich gegenseitig völlig freie Hand, mit der Einschränkung, diese Angelegenheiten diskret, ohne Aufsehen und Nachwirkungen, über die verdunkelte Bühne zu bringen. Die Gefahr, daß er sich dabei verlieben könnte mitsamt all den damit verbundenen Unwägbarkeiten, schätzte sie als gering ein. Er war ein reiner Vernunftmensch, für den Gefühle so etwas wie eine beginnende Krankheit waren. Sie war sich sicher, die Zügel in der Hand und so die Oberhand über ihn behalten zu können. Bis ihr erste Zweifel kamen.



Dank des kleinen Lädchens des alten Dimitri war er mit allem Nötigen versorgt. Zigaretten, einem kleinen Wodka für den Notfall. Mehr benötigte er nicht. Er läutete zweimal kurz. Durch das Auge der Kamera betrachtete sie ihn vermutlich noch einen Moment lang, bevor er ihre Stimme vernahm.
»Ich bin soweit, oder wolltest du noch kurz auf einen Drink rauf kommen?«
Natürlich wollte er das. »Nein danke, wenn es dir recht ist, können wir sofort gehen.« Man will ja nicht gleich mit der vielzitierten Tür ins Haus fallen.
»Gut, bis gleich.« ließ sie ihn wissen.
Es knackte in der Gegensprechanlage und er nutzte die Zeit bis zu ihrem Erscheinen, um eine weitere Zigarette zu rauchen. War er nervös, fragte er sich selbstkritisch? Nein, natürlich nicht, belog er sich selbst. Nach einer Weile öffnete sich die Tür und sie erschien in einem eleganten schwarzen Kleid, reizend, aber dezent; darüber ein leichter Mantel, ebenfalls sehr elegant, wie er feststellte.

Als er klingelte, war sie fertig angezogen, dezent geschminkt und hatte sich gerade eine Zigarette angezündet. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, daß er fast auf die Sekunde pünktlich war. Vermutlich hatte er draußen vor der Tür gewartet.
Sie haßte Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit. Beides duldete sie weder bei sich selbst noch bei anderen.
Die Zigarette drückte sie aus und wandte sich zum Gehen. An der Tür warf sie einen Blick zurück. Aus diesem Blickwinkel würden sie die Wohnung wieder betreten. Sie war mit dem Anblick zufrieden. Die Flasche Pernod war verschwunden und sie hatte so aufgeräumt, daß man nicht sah, wie strategisch durchdacht sie alles platziert hatte.

»Hi!« Sie küßte ihm die Wange. »Nettes Parfüm«, lächelte sie ihn an und er wußte zunächst nicht, ob sie scherzte oder nur ihre ehrliche Meinung kund tat.
Wie auch immer, also sagte auch er »Hi!«, küßte ihr ebenfalls die Wange, sah ihr tief in die Augen und bemerkte, zum Gegenangriff fest entschlossen, »...du siehst umwerfend aus!«. Er bot ihr Feuer an, als sie sich eine Zigarette zwischen die grellroten Lippen klemmte, dann schlenderten sie die Straße entlang.
»Balkanküche, ich meine, ich hoffe, du magst das?« stammelte er mehr, als er fragte.
»Natürlich. Dritte Kreuzung links?« antwortete sie.
»Genau, dritte Kreuzung links, ich sehe, dich kann so schnell nichts überraschen. Die haben gutes Essen, deftig, reichlich. Ich hoffe, du hast nur halb so viel Hunger wie ich!«
 »Mindestens, wenn nicht gar doppelt so viel!«. Sie lachten und waren im Handumdrehen am Restaurant angekommen.
»Meine Dame, darf ich ihnen den Mantel abnehmen?« begrüßte der Wirt beide mit einem übertriebenen Lächeln. »Der Tisch da auf der rechten Seite, mit den Kerzen und den Rosen, ist für Sie reserviert!«. Er wies mit einem Winken in eine gemütliche Ecke.
Sie bestellten Wein, einen leichten Weißen, schließlich hatten sie noch nichts gegessen. Zu viel versprochen hatte er nicht, die Portionen waren wirklich größer als gewöhnlich; und ihr Muckalica, Schweinefleisch mit Zwiebeln, Paprika und Tomaten, empfand sie auch geschmacklich als treffliche Wahl. Er hatte ihr sein Lieblingsgericht empfohlen und sie genossen beide das Gleiche.
Im Anschluß bestellten sie Espresso und Slibowitz. Sie sprachen über Belanglosigkeiten, die Stimmung war sehr heiter.
»Wo schleppen Sie mich heute noch hin, mein Herr?« fragte sie ihn.
Wie auf Kommando hielt er ihr zwei Karten für die Oper entgegen.
Sie lächelte ihn kokett an. Hab ich doch gleich geahnt, mein Lieber, dachte sie, irgendwas in der Art paßt einfach zu Typen wie dir; sie freute sich und freute sich einmal mehr über ihre Männerkenntnis.
»Pelléas et Mélisande« erläuterte er, mit dem wissenden Gesichtsausdruck eines Opernkenners, »von Claude Debussy. Schon gesehen?«.
»Nein.« entgegnete sie wahrheitsgemäß, wobei es ihr eigentlich egal war, in was für ein Stück er sie ausführte. Sie bedankte sich artig für das Essen und versicherte ihm ihre Freude auf den gemeinsamen Abend in der Oper, worauf er sich kurz entschuldigte, um auf der Toilette, die dem Rest des Restaurants an Niveau um einiges nachstand, einen Blick in den Spiegel und anschließend auf seinen Wodkavorrat zu werfen.
»Schöne Scheiße!« fluchte er, als er feststellte, daß er nur noch die Hälfte übrig hatte.
Andererseits lief eigentlich alles nach Plan, wozu also die unnötige Nervosität? So ging er also zurück zum Tisch und winkte den Wirt heran, um die Rechnung zu begleichen.
Dieser bedankte sich überschwenglich und verhalf seiner Dankbarkeit mit einem weiteren Slibowitz zum Ausdruck. Also rauchten sie noch eine weitere Zigarette und leerten die Gläser, bis sie ihrerseits die Nebenräume aufsuchte. Sie verspürte ebenso das Bedürfnis, einen Moment allein zu sein, um sich zu sammeln, sich zu konzentrieren. Die zurechtgemachte Linie Kokain auf dem Waschbeckenrand wischte sie mit einer hektischen Handbewegung weg, eine törichte Idee, jetzt zu koksen, und sich damit die Sinne zu vernebeln, denn der Abend versprach auch ohne diese schlechte Angewohnheit sehr angenehm zu werden. Sicher, das Richtige getan, oder besser, nicht das Falsche getan zu haben, kehrte sie zurück und schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln. Zeit zu gehen.

Mittwoch, 9. November 2011

Rattenkampf – sechs


Das Telefon riß sie zum wiederholten Male aus ihren Gedanken. Wer immer das auch war – er würde sich gedulden müssen. Sie hatte jetzt keine Muße für irgendwelchen Tratsch, und ihr Bedarf an Neuigkeiten aller Art, war für heute gedeckt.
Ihre Bekanntschaft von gestern würde sie dann abholen. In seiner schnoddrigen Mail stand nicht wozu und wohin, aber wenn ihr aus ihrer wilden Zeit etwas geblieben war, so das Gespür für Männer.
Er hatte Stil und er hatte Geschmack, also würde er sie erst in ein teures Restaurant führen und dann in ein Konzert oder das Theater einladen. Sehr zuvorkommend würde er sein, und sie nur sehr sparsam mit Komplimenten versorgen. Sie wird das nicht hinnehmen und auf die gesamte Palette ihrer Verführungskunst zurückgreifen, so lange, bis er anfinge, sie zu umwerben. Dann hätte sie ihre Genugtuung und er würde da landen, wo alle Anderen landeten – in der uninteressanten Ecke.
Nein, dieses Mal würde sie auf das Machtspiel verzichten müssen. Für so etwas war er nicht zu haben und er würde sich höflich, aber bestimmt zurückziehen. Das wollte sie nicht riskieren.
Sie beschloß, noch einmal duschen zu gehen. Daß es der Dreck ihrer vergangenen Jahre war, den sie sich von der Seele spülen wollte, würde sie nie zugeben. Nicht einmal vor sich selbst.
Ihre Kleider ließ sie auf dem Weg ins Badezimmer so lasziv fallen, als würde sie für den späteren Abend proben – dabei wußte sie genau, wie sie sich zu bewegen hatte, um einem Mann endgültig den Todesstoß zu versetzen.
Lächelnd hörte sie noch, wie das Telefon erneut klingelt und er ihr auf den Anrufbeantworter sprach. Dieser Depp! Der Anruf war unnötig und verriet ihr nur, wie nervös er war. Seine Unruhe schmeichelte ihr. Sie konnte nicht ahnen, daß er aus einem ganz anderen Grund aufgeregt war.

Im Park war es naß, kalt, und es wurde dunkel. Es gab tausend Gründe, zu dieser Zeit an einem anderen Ort zu sein. Alles war besser, als hier herumzustehen. Hier zwischen Gestrüpp und Nieselregen. Aber nur von hier aus konnte man den Hauseingang der M. sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Der Joker mußte hier bald auftauchen. Sein Auftraggeber war tot. Wenn er es auch noch nicht mit Bestimmtheit wußte, so ahnte er es zumindest.
Ihre Kugel traf ihn mitten zwischen den Augen, als er den Zündschlüssel ins Schloß stecken wollte und ihrer gewahr wurde. Sie hatte keine Wahl.
 Doch, die hatte sie. Die Alternative wäre gewesen, ihn am Leben zu lassen und unterzutauchen. Ohne Geld, ohne Perspektive und mit der Gewißheit, daß sie irgendwann von so einem Typen wie dem Joker gefunden werden würde. Das kam nicht in Frage.
Seinen Tod hatte er selbst zu verantworten. Man kramt nicht in der Handtasche seiner Sekretärin, auch wenn es sich dabei um die Geliebte handelte. Andererseits war es ihr Fehler gewesen, dort den USB-Stick mit all seinen Paßwörtern und Zugangsdaten aufzubewahren.
Dabei mußte er nichts von dem fürchten, was sie gefunden hatte. Das was sie vergeblich gesucht hatte, war sein Untergang – und Beide wußten, wo sie den jetzt finden würde.

Das Wasser rauschte an ihrem Körper herab. So luxuriös, wie vor Jahren war er nicht mehr. Das mußte sie sich eingestehen. Aber sie hatte auch das seltene Glück, daß ihr das Alter nicht allzuviel anhaben konnte.
 Sie blieb attraktiv, und heute Abend würde sie an die Triumphe längst vergangener Jahre anknüpfen. Pietätvoll wäre das sicher nicht – davon abgesehen, daß die Rolle der trauernden Witwe ihr sowieso keiner abnehmen würde – aber durch dieses Abenteuer gewänne sie Abstand zum Tod ihres Mannes und was dieser für sie bedeuten könnte.

In seiner Pension rückte er sich den Krawattenknoten zurecht. Der Spiegel war übermannsgroß und so breit, daß er hinter sich das halbe Zimmer und die Bettcouch sehen konnte. Ihr Bett war doppelt so groß.
Im Grunde hatte er keine Wahl. Sein Auftraggeber war mit Sicherheit tot. Trotz des lausigen W-LAN Empfangs – hier war einfach alles lausig – konnte er noch einmal seinen Posteingang sichten. Nichts. Auch die Ausweichvariante, eine belanglose telefonische Nachricht über die Pension, war ausgeblieben.
Das hieß, daß sein Geldgeber aus dem Rennen war. Ob tot oder nicht. Er könnte jetzt einfach die Dinge laufen lassen, egal was und ob überhaupt etwas passierte. Aber so würde er einen dicken Fisch von der Angel lassen und das konnte er sich nicht leisten. Diese Nacht mußte er die Unterlagen im Tresor sichten. Er mußte jetzt wissen, um wieviel Geld es ging und vor allem, wem die Dokumente viel Geld wert waren. Skrupel kennt kannte er dabei nicht. Zur Not würde er auch die M. erpressen, nachdem er die Dokumente in Sicherheit gebracht hätte.
Soviel er wußte, kannte jetzt nur noch er die Zahlenkombination für ihren Safe. Sicher hatte sein Klient sie irgendwo hinterlegt, aber so schnell würde da wahrscheinlich keiner ran kommen. Zumindest würde er ein, zwei Tage Vorsprung haben.
Der Chauffeur war für gewöhnlich pünktlich. In einer halben Stunde würden sie sich an der Metro-Station treffen, um den Verlauf des Abends abzusprechen. Er war sich im Klaren darüber, was er ihr bieten mußte und was sie von ihm erwartete. Bei dem Gedanken an Letzteres mußte er grinsen. Gut, das Spiel möge beginnen. Er zog die Tür hinter sich zu. Wenn er langsam liefe, wäre er ohne warten zu müssen rechtzeitig da.

Sie fror, und sie kämpfte gegen ein Gefühl der Einsamkeit an. Sie war allein. Schon immer. Gewöhnlich kam sie damit gut zurecht. Sie brauchte niemanden, der sie brauchte. Nur manchmal, so wie jetzt, sehnte sie sich nach etwas Rückhalt und Geborgenheit.
Er mußte jetzt bald kommen. Aber damit war die Warterei nicht zu Ende. Im Moment konnte sie nichts tun. Nichts Kluges zumindest. Alles hing von ihm ab. Die Unterlagen waren viel Geld wert. Er konnte den Tresor öffnen, sie selbst nicht. Die Zahlenkombination war bei ihm, M.’s Mann, nicht zu finden gewesen. Aber sie war sich sicher, daß der Fuchs sich ein Hintertürchen offen gelassen hatte. Seine Frau war nicht eingeweiht. So viel wußte sie. Aber er hatte sicher einen Weg gefunden, daß sie im Ernstfall – im äußersten Notfall – den Safe öffnen konnte. Die Chiffre mußte also in der Wohnung so versteckt sein, daß man sie ohne Hinweis nicht finden konnte.
Dem Joker hatte er die Kombination gegeben. Das und die Tatsache, daß nie jemand etwas von seiner Existenz geahnt hatte, sagten ihr, daß sie ihn sehr ernst nehmen sollte.
Sie mußte jetzt hier warten und sehen, was passierte. Vielleicht gingen die beiden ja aus. Dann konnte sie sich zumindest in der Wohnung umschauen. Ansonsten mußte sie auf morgen warten, und darauf vertrauen, daß der Joker ihrem Charme erläge.

Sonntag, 6. November 2011

Rattenkampf – fünf


Er rang mit sich. Doch irgendwann war ihm klar: Wenn er dran bleiben wollte, mußte er jetzt handeln. Also besorgte er Karten für die Oper und reservierte einen Tisch in einem Restaurant, welches sich der Balkanküche verschrieben hatte. Dort war man relativ allein und obendrein gab es deftige Portionen - eine Tatsache, die bei der Wahl des Lokals eine große Rolle spielte, denn er hatte seit Stunden unbändigen Hunger und befürchtete, daß der Wodka ihm aufgrund mangelnder Nahrungsgrundlage die Sinne schneller vernebeln könnte.
Er wählte ihre Nummer, doch als sich nur der Anrufbeantworter meldete, legte er wieder auf. Warum nur? Wahlwiederholung, Anrufbeantworter – er hinterließ ihr einfach eine Nachricht mit dem Bitte, sie später abzuholen. Außerdem sollte sie sich etwas Elegantes anzuziehen. Nach dem Auflegen schalt er sich einen Deppen: als wäre es vorstellbar, daß sie mal nicht elegant auftreten würde!
Außerdem wußte sie, wann er sie abholen würde. So verriet er ihr nur, wie nervös er war. Gut, sie würde dies zu ihren Gunsten werten. Er nahm eine Dusche und durchsuchte seinen E-Mail- Eingang nach der Nachricht, die einfach nicht eintreffen wollte.

Ihre Ehe bestand nur auf dem Papier. Von Anfang an. Der Adel, besonders der Geldadel, heiratete nicht aus Liebe, sondern weil es notwendig wurde.
Das Firmenimperium gründete ihr Vater nach dem Krieg, mit dem Geld, das seine erste Frau mit in die Ehe gebracht hatte. Dieses hatte ihr Vater durch windige Geschäfte in Budapest erlangt und als Seifenfabrikant fast wieder verloren. Aufgrund seines frühen Todes in einem Schweizer Sanatorium – Tuberkulose – hatte sie den Rest seines Vermögens retten und ihrem Gatten anvertrauen können. Das war alles, was sie zur Familienchronik beigetragen hatte.
Sie starb im Jahr ihrer Hochzeit in einem Schweizer Kurort, an den Folgen einer seelischen Erkrankung und einer Überdosis Schlaftabletten. Ihr Mann heiratete kurz darauf die Frau, die ihre Mutter werden sollte, und diese Ehe blieb, bis auf ihre Geburt, folgenlos.
Während ihre Mutter in Schweizer Kliniken genau wie ihre Vorgängerin auf Heilung hoffte, wuchs sie selbst gut behütet in verschiedenen Internaten des Alpenlandes auf. Ihre Eltern sah sie nur zu den obligatorischen Familientreffen. Was sie trieben und wer sie waren, blieb ihr unbekannt. Sie finanzierten ihr jeden Unfug und jede Schrulle vorbehaltlos.
Mit 18 Jahren bekam sie ihr eigenes Rennpferd, welches sie nur einmal sah und welches nie ein Rennen bestritt und aus einer Laune heraus bald eingeschläfert wurde. Sie studierte in Paris, Prag und London Kunst- und Kulturgeschichte, Semiotik, klassischen Gesang, amerikanische Literatur und noch einiges anderes mehr, ohne etwas davon zu Ende und zu einem Abschluß zu bringen.
Das Einzige, wofür sie sich wirklich nachhaltig interessierte, waren Männer aller Gesellschaftsschichten und Altersklassen. Sie studierte diese Wesen mit solch einer Inbrunst und   Skrupellosigkeit, daß sie bald den Status einer Persona non grata, nicht nur in allen vornehmen Häusern Europas, sondern auch in jeder schmierigen Hafenkneipe von Marseille bis Wladiwostok genoß.
Ihr Lebenswandel wurde von ihrer Mutter in allen Belangen unterstützt. Diese bewunderte und beneidete ihre Tochter für ihre zügellose Freiheit und verhinderte alle Versuche ihres Vaters, der zumindest in familiären Dingen auf seinen Ruf bedacht war, diesem Treiben ein Ende zu bereiten.
Während ihrer wilden Zeit, wie sie ihren Orientierungslauf nannte, sah sie ihre Eltern in einem Monat öfter als während ihrer gesamten Kindheit. Mit Ende Zwanzig kam dann unweigerlich, ohne Vorwarnung und Anlaß, ihr erster seelischer Zusammenbruch. Von der wilden, flippigen Partymaus war über die Nacht nichts mehr übrig geblieben.
Die Erkenntnis, daß ihr bisheriges Leben völlig sinnlos und inhaltslos verlaufen ist, traf sie völlig unvorbereitet. Ihre Bestandsaufnahme war ernüchternd und deprimierend. Sie konnte außer ein paar Schwangerschaftsabbrüchen und einer manifestierten Ziellosigkeit nichts Bleibendes vorweisen.
Ihr weiteres Leben wurde dann von wechselnden Sinnkrisen, schweren Depressionen und Drogenexzessen geprägt. Auf Anraten ihres Vaters, den sie bei dieser Gelegenheit das letzte Mal sah, ließ sie sich in ein Schweizer Sanatorium einweisen.

Ihre Mutter war kurz zuvor in derselben Klinik verstorben. Ihre Paranoia hatte zuletzt immer schwerere Formen angenommen. So fühlte sie sich von jedem Schriftstück bedroht. Egal, ob es ihre Krankenakte, eine Zeitung oder eine Eintrittskarte war – jedes beschriebene Papier löste in ihr schwere Panikattacken aus, die nur durch hohe Dosen Valium gedämpft werden konnten.
Nach einer versehentlichen Überdosierung erlitt sie einen Atemstillstand, der auch durch sofortige ärztliche Hilfe nicht beendet werden konnte. Ihr Vater akzeptierte diesen, von der  Klinikleitung eingestandenen Umstand, verzichtete auf dessen Sühnung, und man vereinbarte, aus Rücksicht auf das Ansehen der Heilstätte und deren Patienten, Stillschweigen über diese Panne.
Kurz darauf starb auch ihr Vater unter mysteriösen, nie geklärten Umständen. Er hatte es im Laufe der Jahre zu ansehnlichem geschäftlichen Erfolg gebracht. Die Spuren seiner Aktivität waren weit gestreut und kaum zu übersehen. Er besaß selbst mehrere Unternehmen, war an anderen beteiligt oder kaufte sie, schrumpfte sie gesund und verhökerte sie gewinnbringend weiter.
Dabei hatte er sich den Ruf eines harten Hundes erworben, der seine Interessen rücksichtslos durchsetzte. Man munkelte, daß vieles davon nicht ganz legal ablief und daß er nicht nur die sprichwörtlichen Leichen im Keller beherbergte.
Vor seinem Tod sei er auffällig lichtscheu geworden. Er verließ das Haus nicht mehr allein und machte einen nervösen und fahrigen Eindruck. Seine geschäftlichen Aktivitäten fuhr er auf das Notwendigste zurück und agierte sehr zurückhaltend.
Eines Tages fand ihn seine rechte Hand, sein junger Privatsekretär und Vertrauter, erschossen vor dem geöffneten Firmentresor liegend. Im Kamin lagen hastig verbrannte Dokumente, aber man vermutete, daß der größte Teil der im Tresor aufbewahrten Unterlagen verschwunden war. Einen Beweis dafür gab es nicht.
Sein Privatsekretär konnte nur vage Angaben über den Inhalt des Safes machen; ob sich der Firmengründer wirklich selbst erschossen hatte, wie es den Anschein erweckte, konnte nicht endgültig geklärt werden.