Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Sonntag, 26. Mai 2013

Tantchen – es gibt Tage, da …


Scheiß Telefon.

»Mein Schunge! Habe ich dich geweckt?«

Es ist 17.00 Uhr. Hinter mir liegt ein Tag, wie er beschissener nicht sein kann. Schwamm darüber – das ganze Leben scheint aus deprimierenden Tagen zu bestehen. Mal mehr, mal weniger. Man verläßt früh geduscht das Haus, um abends angepisst wieder heimzukehren. Das ist eine Konstante im Leben, auf die man sich verlassen kann. Die unbekannte Variable in dieser Ungleichung sind Tantchens Heimsuchungen. Persönlich oder fernmündlich. Worauf man sich wiederum bei diesen verlassen kann ist, daß sie einen ereilen, wenn man sie am wenigstens gebrauchen kann – wenn man mit den Nerven sowieso schon am Ende ist – und das Tantchen noch ein letztes, brachliegendes Nervenbündel findet, was sie einen rauben kann.

»Du klingst so verpennt. Aber jetzt werde mal munter. Ich rufe gerade an!«

Wen?

»Dich! Mein Gott, um diese Uhrzeit solltest du aber fit sein. Jetzt höre mal zu! Du hast doch eine Waage. Die Personenwaage, die ich dir mal geschenkt habe.«

VEB Junkalor Dessau. Die liegt original verpackt unter meinem Schrank. Seit genau 28 Jahren.

»Stelle dich mal darauf. Die Schuhe kannst du anlassen.«

Widerstand zwecklos.

»Schau mal nach unten! Siehst du was?«

Ja, die Waage.

»Ich meine: Ob du was erkennen kannst! Dein Gewicht! Die Zahl auf der Scheibe, die sich dreht, wenn du darauf steigst und die stehen bleibt, wenn du aufhörst mit zappeln!«

Ohne Brille nicht.

»Hm, die Gustl auch nicht. Aber die sieht sie auch mit Brille nicht. Komisch.«

So expandiert, wie Gustls Körperfülle sich ergießt, wird sie nicht einmal die Waage sehen können.

»Stimmt. Wie weit geht deine Waage eigentlich? Maximallast?«

125kg.

»Das wird nicht reichen. Gut, diese Waage war für DDR-Bürger gedacht. Wir wogen ja nichts. Besonders nach dem Krieg …«

Vor dem Krieg gab es keine DDR-Bürger.

»… Da gab es auch ja auch kaum was zu essen. Nichts gab es da. Nur Lebensmittelmarken …«

Bla, bla, bla. Damals wußten sie nicht, wie sie das Fett auf die Hüften bekommen und heute jammern sie herum, weil sie welches darauf haben.

»Stelle dir doch mal spaßeshalber vor, du wärst die Gustl und mache dich ein bißchen schwerer. So um die 150kg müßtest du dann wiegen.«

Wie soll ich das machen? Spontan meine Dichte erhöhen, damit die Nachbarschaft mit auf die Waage paßt? 150kg? Wo soll ich jetzt 60kg hernehmen?

»Laß dir was einfallen! Stelle dich nicht so an! Da rufe ich dich schon mal an, weil ich einmal deine Hilfe brauche …«

Einmal? Einmal? Wer ruft ständig an und will irgendwas? Ach, egal. Da lasse ich mir eben was einfallen. Die Waage brauche ich dafür nicht.

»Und? Was siehst du? Steht da jetzt eine 25? Zeigt die jetzt 25kg an?

Nein. Warum sollte sie?

»Ich dachte, die überdreht vielleicht. Die Anzeige geht bis 125kg und wenn man 150kg darauf packt, zeigt sie wieder 25kg an. Das wäre doch möglich gewesen!«

Möglich ist alles. Nur eins nicht: Das ich das Telefon jetzt in die Ecke schmeiße. So sehr, wie ich mir das wünsche. Aber das traue ich mich nicht.

»Na gut, dann eben nicht. Mir hätte das sowieso nicht weiter geholfen, weil die Gustl die Waage eh nicht sehen kann.«

Klasse. Ich breche mir hier einen ab und ihr hilft das sowieso nicht weiter. Wie wäre es mit einer sprechenden Personenwaage? Die gibt es in der Kaufhalle nebenan für 12 Euro? Das ist auch eine Waage für Bundesbürger. Die schafft bis 180kg! Hören wird die Gustl ja noch was. Wozu braucht die eigentlich noch eine Waage? Für den Sargtischler? Macht der neuerdings Schwerlasterdmöbel?

»Die hört eben nichts mehr! Mein Schunge! Du mußt mich doch für total von gestern halten!«

Bestimmt nicht. Tantchen ist zwar streng genommen von gestern, aber im hier und heute angekommen.

»Was denkst du, was ich der Gustl vor sechs Wochen zu ihren Geburtstag geschenkt habe? Eben diese sprechende Waage! Die will plötzlich wieder schlank und fit werden! Die spinnt! Die ist fast einhundert Jahre alt! Seitdem habe ich keine ruhige Minute mehr! Ständig ruft die mich an, und will wissen, ob sie zu- oder abgenommen hat!«

Was? Woher soll Tantchen das wissen?

»Weil sie den Telefonhörer an die Waage hält! Die versteht ihre eigene Waage nicht! Mein Gott! Die ruft mich an, dann steigt sie auf die Waage und bückt sich. Das dauert ewig, ehe die unten ist! Meistens ist die Waage da schon fertig mit quasseln. Also fängt das Spiel von vorne an! Manchmal verstehe ich die Waage nicht. Dann muß die Gustl auch noch mal darauf!«

Ich schmeiße nicht das Telefon, sondern mich weg! Köstlich! Und wenn sie sich erst bückt und dann auf die Waage steigt?`

»Haha! Hast du das einmal versucht? Das geht nicht! Da fällt sie um!«

Da bleibt nur die Variante übrig, erst den Telefonhörer neben die Waage zu legen und dann hinaufzusteigen.

»Soweit sind wir jetzt auch schon. Nach sechs geschlagenen Wochen. Aber eine Lösung ist das auch nicht. Eigentlich wollte ich ihr deine Waage vermachen. Du brauchst die ja sowieso nicht.«

Stimmt. Ich brauche sie nicht und traue mich nicht, seit 28 Jahren, sie wegzuschmeißen, weil sie ein Geschenk von Tantchen ist. Ein Geschenk, was ich bekommen habe, weil ich es sowieso nicht brauche. Prima.

»Aber, wie wir herausgefunden haben, eignet sie sich ja nicht für Gustls Ansprüche.«

Ansprüche ist gut. Man ist nicht zu fett, sondern hat nur andere Ansprüche.

»Eigentlich brauche ich nur eine Waage, die nur mehr oder weniger anzeigt. Kannst du mal im Internet gucken? Den Spaß würde ich mir auch was kosten lassen. Ich dachte da so an die zwanzig Euro. Das ist mir die Gustl wert.

Mehr oder weniger anzeigen? Was soll das sein?

»Na, der Gustl würde reichen, wenn sie wüßte, ob sie zu- oder abgenommen hat. Das genaue Gewicht darf ich ihr gar nicht verraten. Sie meint, daß würde sie zu sehr mitnehmen. Ich sage immer nur: mehr als heute früh, mehr als nach dem Mittagessen oder eben weniger als gestern Abend.«

Da brauche ich nicht im Internet suchen. Der Schrotthändler um die Ecke hat so ein Teil. Man hängt ein Gegengewicht, meist 200kg oder mehr, ein und knallt die Ladefläche mit alten Schrauben, Altmetall eben, voll. Der Zeiger bewegt sich nur, wenn man nahe an dem vorgegebenen Gewicht ist. Ich glaube, plus oder minus 20kg. Das müßte reichen. Die Skala ist in Augenhöhe und mit bloßen Augen, auch mit -20 Dioptrien, gut zu erkennen. Das Gegengewicht kann man ja abdecken, so das man nicht erkennt, wie viel es wiegt, wenn das die Gustl zu sehr mit nimmt. Einfach eine alte Socke darüber ziehen.

»Ich glaube, du läßt es etwas an der Ernsthaftigkeit bei der Lösung für Probleme älterer Menschen fehlen. Ich brauche etwas handliches und nicht eine halbe Schrottpresse! Du guckst jetzt sofort im Internet nach etwas brauchbaren und rufst mich in 2h zurück. Wenn du nichts findest, klingelst du den Schrotthändler an und fragst, was er für das Teil haben will und ob er es auch anliefert. Dann muß ich eben in den sauren Apfel beißen und ihr das Ding kaufen. Noch eine Woche halte ich das Theater nicht aus. Platz dafür hat sie sicher noch, wenn sie den Schrank aus dem Schlafzimmer neben dem im Korridor stellt. Das heißt, wenn du ihn dort hinstellst. Wann hast du morgen Zeit? Aber das müßte schon am Vormittag sein. Morgen ist Donnerstag, da halten wir nachmittags unser Kaffeekränzchen ab. Da hat die Gustl keine Zeit. Apropos Kränzchen: Der Bäcker bei dir hat doch solche leckeren Erdbeerschnittchen. Bringst du bitte 5 Stück davon, es können auch ein paar mehr sein, der Gustl mit, wenn du ihren Schrank umstellst? Dann haben wir gleich was Gutes zum Kaffee trinken. Und wenn du einmal beim Bäcker bist, gegenüber ist doch …«

Es gibt Tage, da nimmt man frisch geduscht den Telefonhörer ab, um ihn ein paar Stunden später …

6 Kommentare:

  1. Deswegen duscht man ja... sonst würde man spätestens donnerstag Abend so riechen, dass einen die Iltis-Weibchen links und rechts des Weges verliebt ansehen würden. ;o)

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  2. Dann dusche ich nicht mehr. Da schauen einen wenigstens die Iltisweibchen verliebt an. Das ist besser als gar nichts.

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  3. 158 Kilo Lebendgewicht! Jungen, junge, da kommt der Gutste schon in den Bereich eines Sumo - Ringers in der Junior - Klasse. Abnehmen! Aber wie? Auf jeden Fall nicht mit dem täglichen geworbenen Chemiedreck! Zum Thema duschen: Was tun wenn die Heizungsanlage streikt? Einen großen Topf mit warmen Wasser über den verschwitzten Kopf schütten und ein Stück Alepposeife dazu. Das reicht! Übrigens: Schön geschrieben!

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  4. Ist die Bezeichnung »Alepposeife« eigentlich noch politisch korrekt?

    Duschen: In meiner ersten Wohnung gab es kein Bad. Die Toilette kam ohne fließend Wasser aus und ich mußte sie mir mit dem Nachbarn teilen, was in diesen Häusern üblich war. Warmwasser gab es nur aus einem 10l Boiler. Man stellte sich in die Kinderbadewanne und duschte mit einem Maßbecher. Wenn in der Wohnung darunter die Waschmaschine angestellt wurde, war es mangels ausreichend Wasserdruck vorbei mit der nassen Pracht. Dann stand man eingeseift da und mußte warten, bis die Maschine sich gefüllt hatte. Was durchaus 10min dauern konnte. Was besonders im tiefen Winter, bei damals in der Küche maximal erreichbaren Temoeraturen von 8°–13°C, ein besonderes Vergnügen darstellte. Was uns nicht tötet ...

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  5. haha, auch wenn dir dieses telefongespräch vielleicht den tag vermiest hat- meinen hat es gerettet!

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  6. Yin und Yang – schwarz und hell, hart und weich – das Eine bedingt das Andere. *g*

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