Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Mittwoch, 24. November 2010

Eiseierlauf


»Diese Schweine! Auf die Schnauze hauen, müßte man denen!«

Ein ca. sechzig Jahre altes Männel rudert, nach Halt suchend, mit den Armen. Dabei verheddert er sich mit seinem viel zu langen Schal und seinem Dederon-Einkaufsbeutel, dreht sich einmal um die eigene Achse – diese neigt sich, kippt – der Beutel löst sich von seiner Hand, folgt den Gesetzen der Zentripedal-, Zentrifugal- und der Fliehkraft, startet mit einem 45° Winkel in die Nacht und über den verschneiten Zaun, zu einem verwehten Vorgarten, und Beide – der Mann und sein Beutel – schlagen fast zeitgleich auf. Der Beutel im Schnee und der Mann auf dem hucklig vereisten Fußweg.

»Diese Schweine! Wenn ich die erwische! So eine Sauerei ist das hier!«

Er rappelt sich auf, klopft sich den Schmutz und den harten Schnee von der Hose und schaut sich tief empört nach seiner Einkaufstasche um.

»Diese Schweine! Von dort komme ich! Denn da wohne ich! Schon seit über vierzig Jahren! Das sind von hier nicht mal hundert Meter. Vor einer Stunde bin ich los. Einkaufen. Die Eier waren alle. Also dachte ich mir, gehste mal los Eier holen. Die esse ich doch so gern. Weichgekocht. Viereinhalb Minuten oder Fünf. Je nachdem wie groß die sind.«

Das Männel klebt jetzt hockend bis zur Schulter im Zaun. Sein rechter Arm reicht durch ihm durch, aber nicht weit genug, um den Beutel greifen zu können.

»Diese Schweine! Bis zur Kaufhalle bin ich gekommen. Die Neue! Gleich da drüben ist die. Keine hundert Meter von hier. Kurz davor bin ich das erste mal hingekracht. Da hatte ich die Eier noch nicht! So eine Scheiße, dachte ich mir. Die schöne Hose! Die wollte ich für heute Abend anlassen. Zum Skat. Das kann ich vergessen. Da muß ich eben die für den Garten anziehen. Dort habe ich jetzt eh nichts zu tun. Bei dem Schnee!«

Mühsam stemmt er sich – ohne Einkaufseierbeutel – hoch und greift sich ächzend in die Seiten.

»So wird das nichts. Die Eier sind eh Murks. Dreimal bin ich noch hingeklatscht. Dreimal mußte ich klingeln, damit die mir den Beutel wieder aus dem Vorgarten reichen. Eine Scheiße ist das hier.«

Suchend blickt er sich nach einer Klingel um.

»Obwohl, das ist doch dem Schorsch sein Zaun. Vielleicht habe ich Glück und muß nicht klingeln?«

Der Schorsch wird bei der Dunkelheit kaum etwas von dem Eierbeutelwurf mitbekommen haben und ihn von alleine über den Zaun reichen.

»Der Schorsch wohnt doch hier in der Todeskurve. Seit der Wende heißt die so. Nach dem ersten Schnee kracht dem immer ein Auto in den Zaun. Seit der Wende! Regelmäßig nach dem ersten Schnee! Der Schorsch sagt immer: Darauf könne er sich verlassen! Das wär so sicher, wie das Ahoi in der Kirche. Der Schorsch war doch früher hoch zu See. Bis zur Wende war der überall! In jedem Hafen! Wenn der davon anfängt zu erzählen, muß man sich schnell die Taschen zunähen. Eine Phantasie hat der Schorsch!«

Und Glück. Der Zaun ist noch ganz.

»So ein Pech! Da muß ich klingeln und kann nicht einfach durch den kaputten Zaun ... Es ist ja auch der erste Schnee der hier liegt. Sicher rumst es bald. Da kann der Schorsch wieder lamentieren und erzählen, wie oft er den Zaun schon geflickt hat. Beim Skat. Jeden Mittwoch kloppen wir dort drüben in der Schenke unsere Karten. Mit dem Müller-Karl. Das ist keine hundert Meter von hier!«

Ach du Scheiße.

»Die Geschichten vom Zaunflicken kenne ich alle auswendig. Wie er projektiert hat und wie er die Sache dann angegangen und gelöst hat. Jedesmal hat der sich der Aufgabe gestellt und jedes Jahr anders! Neunzehn mal von der Wende bis jetzt! Ich höre den schon wieder! Wie der anfängt mit erzählen!«

Ach du Scheiße!

»Aber es hilft ja nicht nichts. Jetzt muß ich bei ihm klingeln. Ich kann ja schlecht warten, bis es rumst und ich einfach so durch den kaputten Zaun kann. Heute ist ja Skat und ich wollte noch Abendbrot ... – die Eier sind eh Murks und gefroren – und die Hose für den Garten ...«

Klingeln!

»Eine Sauerei ist das hier! Diese Schweine! Können die nicht ...«

Ein Ruck geht durch den Mann. Seine mühsam unterdrückte Empörung bricht sich ihre Bahn.

»... ordentlich den Schnee beräumen? So wie es sich gehört und es früher Gang und Gäbe war? Dort auf der Straße kommen die erst, wenn schon alles festgefahren ist! Dann schieben die nur die Hälfte weg und schütten ein bißchen Salz drauf! Das wird doch nur eine Schmiere, wenn der Schnee schon Eis ist! Sand gehört da drauf! Sand! Diese Idioten! Seit der Wende geht das so! Erst seitdem machen die so einen Scheiß! Erst seitdem knallen sie dem Schorsch rein! Vorher haben die ordentlich geräumt. Rechtzeitig! Bevor der Schnee fest war! Und den haben sie mitgenommen und nicht alles auf den Fußweg geschoben. So wie hier! Auf dieser Buckelpiste kann doch keiner laufen!«

Recht hat er. Der Fußweg ist eine einzige vereiste Katastrophe.

»Früher war alles, was einen Schneeschieber halten konnte, unterwegs. Sofort! Bevor der Schnee zusammengepappt ist. Mit dem Traktor sind wir los. Schneeschieben. Oder mit dem Multicar! Ich war Melker! Dort drüben in der LPG. Die war ...«

Keine hundert Meter von hier.

»... dort wo jetzt die Kaufhalle ist. Dort hat auch keiner gestreut! Das bißchen Vogelsand was die dort ausgekippt haben ... Schneeschippen müssen die! Und dann erst streuen! Diese Idioten!«

Der Mann ist jetzt in Hochform. In seiner Ausführung fehlt nur noch der systemkritische Zusammenhang.

»Wenn ich im Winter nicht an der Kuh war, war ich am Schneeschieber! Die ganze LPG habe ich beräumt! Da gabs nichts! Der Schnee mußte weg! Der war viel zu gefährlich für den Sozialismus! Wenn da einer ausgerutscht wäre und sich was getan hätte! Bei dem Arbeitskräftemangel! Aber heute? Die denken, die können sich mit ihrer Marktwirtschaft alles erlauben! Diese Kapitalistenschweine! Wenn da einer auf die Fresse fliegt, ist der seinen Job los! Damit rechnen die doch! Das kalkulieren diese Schweine ein! Deswegen räumen die hier keinen Schnee!«

Noch hat er nicht alles gegeben. Da steckt noch mehr drin.

»Da kann man über die Roten herziehen, wie man will! Eins muß man ihnen lassen. Unter Honecker! Unter Honecker hat es so etwas nicht gegeben! Die haben den Schnee nicht einfach auf den Fußweg geschoben. So ein Murks! Egal wo man hinblickt!«

Jetzt schaut er auf dem Murks, der im Vorgarten liegt und mal frisch gekaufte Eier waren.

»Ach, was rege ich mich auf. Die da oben machen sowieso was sie wollen. Das war früher auch nicht anders. Ich klingele jetzt einfach und schere mich dann nach Hause. Sonst komme ich noch zu spät zum Skat.«

Und ich zu spät in die Kaufhalle. Die macht gleich zu. Eigentlich brauche ich ja nur ein paar Eier ...

2 Kommentare:

  1. Harald Schmidt fing sein Buch »Tränen im Aquarium« (steht bei mit goldmittig zwischen »Taschenlexikon von A bis B« und »Freude am Grillen«) frei nach der These an, dass es gleich am Anfang ordentlich knallen müsse, damit der Leser auch dranbleibt. Diesen Lehrsatz hast du hier sehr gut umgesetzt.

    Was bleibt, ist wieder mal die Erkenntnis, dass der Erich kein schlechter war. Man müßte unsere alte Republik mal wieder aufmachen, nur für ein paar Tage, um noch mal einen Vergleich zu bekommen, am besten, wenn´s geschneit hat!

    Wunderte mich erst, meinen Namen in der stimmungsvollen Grafik zu lesen, erkannte dann aber einen alten Melniker Freund wieder. Er war wohl böhmisch katholisch.

    Ahoi!

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  2. Wenns schneit ist das Streusalz alle. Insofern hat der Laden hier von der DDR gelernt, wie voriges Jahr geschehen.

    Danke. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben. Aber wie das immer so ist: Man weiß nie, was am Ende dabei rauskommt.

    Ja ich hab dich beklaut aber ich konnte locker davon ausgehen, das du damit einverstanden bist. *g* Ansonsten fühle ich mich, wenn auch eingeschränkt, der Jolly Rogers verpflichtet. ;-)

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