Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Sonntag, 8. August 2010

zeitlose

Aus aktuellem Anlaß folgt ein Text von Anno 2008. Den aktuellen Anlaß selbst werde ich wohl erst später aufarbeiten können. *g*


Herbstzeitlose spätnachmittägliche Schönwetterverstimmung am Rande eines Hochwaldes. Die Luft atmet feuchten Moos-, Moder- und Pilzgeruch. In der Hand halte ich die Zigarette danach und auf der Kühlerhaube liegt die spärliche Beute meines kleinen Ausfluges.

»Waren sie in den Pilzen? Und? Haben sie viele gefunden?«

Neben mir hält ein Fahrrad, mit einer mir seltsam vertrauten, aber völlig unbekannten Frau um die Sechzig. Sie lehnt sich über den Lenker und belächelt den Inhalt meines Pilzkorbes. Ihr männlicher Begleiter, in ihrer entsprechenden Altersklasse, radelt hochrot schwitzend, ohne mich eines Blickes zu würdigen, von der Straße in den Wald weiter.

»Naja, so üppig sieht das ja nicht aus. Wir haben zwar zunehmenden Mond aber es hat schon drei Tage nicht geregnet. Da dürften die meisten schon vergammelt sein. Da geht man eigentlich nicht mehr Pilze suchen junger Mann!«

Ich habe Mühe ein Augenverleiern zu unterdrücken und schaue einfach in den Himmel. Aber es stimmt: Die meisten Pilze die ich gefunden habe, waren vertrocknet oder verschimmelt.

»Kein Wölkchen am Himmel. Der Wetterbericht hat gesagt, daß es erst Ende der Woche wieder regnen soll. Da müssen sie es noch einmal versuchen. Da haben wir auch noch keinen Vollmond. Früher, zu meiner Zeit, waren wir – mein Mann und ich – öfters hier. Dort drüben haben wir immer viel gefunden. Da müssen sie mal hingehen, wenn es wieder geregnet hat!«

Sie zeigt die Straße hinauf, auf ein etwas entfernteres Wäldchen. Dabei fällt mir ein, warum diese Frau mir so vertraut vorkommt. Ihre Einheitsfrisur ist die einer alternden HO-Verkäuferin, wie sie zu DDR-Zeiten üblich war. Diese weiße Bluse und ihr hellbrauner Rock stammen wahrscheinlich aus dem Exquisit. Der Einheitsschick der späten siebziger Jahre für die etwas ältere Werktätige. Ihr Miniklapprad erinnert mich an mein eigenes, welches ich als Kind hatte. Auf dem Gepäckträger klemmt ein Henkelkorb, wie man ihn damals im Dorfkonsum zum einkaufen bekam.
Ihre Gestalt, ihr Klappfahrrad, der Geruch des Waldes und mein aufsteigendes Hungergefühl lassen meine Gedanken in eine längst vergangene und vermeintlich vergessene Zeit zurückschießen.
Ich stehe in der Schlange zur Essenausgabe in der Baracke meines Kinderferienlagers und meine Gegenüber haut mir, in einer bunten Dederonkittelschürze, eine Portion Kochfisch mit Soße auf den Plasteteller, die ich gleich wieder in der Essensrestesatte entsorge. Das Fahrrad lehnt an der Baracke, ich schaue hungrig-wütend in den damals sommerlichen Wald und wünsche mich wieder nach Hause.

»Dort haben wir immer viele Pilze gefunden! Mein Mann und ich! Da gibts ein paar Stellen ... Körbeweise haben wir sie dort rausgetragen! Wenn man früh genug da ist, findet man auch welche! So spät wie jetzt geht man nicht mehr sammeln junger Mann!«

Ich schaue in den Himmel und wünsche mich nach Hause.

»Obwohl ... Wir waren zwar eine Weile nicht hier, aber die Pilze wachsen dort bestimmt immer noch. Als wir das letzte mal hier waren, gab es diese Straße noch nicht. Das war nur ein Schotterweg der die Nachbardörfer verbunden hat. Da sind sie eigentlich nur zur Erntezeit mit den Traktoren von der LPG durch. Sonst ist hier kaum einer langgefahren. Wozu auch? Es sei denn, man wollte in die Pilze.«

Eine Weile? Diese Straße gibt es seit über zwanzig Jahren!

»Ich sag ja: Wir waren eine Weile nicht hier. Erst wurde mein Mann krank und dann gab es Streit mit meiner Schwester wegen dem Erbe. Sie hätte, von mir aus, ja alles bekommen können! Aber so raffgierig wie die ist, konnte ich auch nicht anders! Da gings ums Prinzip! Jetzt ist sie selber tot. Krebs. Geschieht ihr Recht! Nun kloppen sich meine Nichten um alles! Eine Schande ist das!
Wissen sie: Was ihre Geschwisterliebe wert ist, erfahren sie erst, wenn ihre Eltern tot sind!
Aber schön ist sie geworden die Straße. Auch wenn sie keiner mehr braucht.«

Im Ferienlager mußte ich bleiben, heute kann ich in mein Auto steigen und nach Hause fahren.

»Ja, ich muß dann auch weiter! Mein Mann und ich wollen mal schauen, ob es da unten den Stausee noch gibt. Der ist schon vorgefahren. Ob der einmal auf mich warten kann? Egal bei was? Ich glaube es nicht mehr. Na dann: Gute Heimfahrt! Und vergessen sie nicht, die Pilze heute noch zu putzen und zu braten. Sonst vergammeln die!«

Zeitreisende und ich haben eines gemeinsam: Man sollte sie nicht aufhalten.

5 Kommentare:

  1. - vielleicht nicht die HO-Frisur, aber immerhin einen einheitlichen Typus Frau ähnlichen Schemas kann man bei gutem Licht heute noch in ausgewählten Konsum-Filialen finden

    - »zu meiner Zeit« will ich irgendwann auch mal sagen können, dann aber ständig und überall

    - 2008, junger Mann, hahaha ;o)

    - ins Museum klingt logisch, ins Wasser springen auch, aber warum heißt das IN die Pilze?

    - wenn man mal nichts findet, kann man prima (z. B. Netto Tharandt, auf dem Rückweg aus gleichnamigen Wald) mittlerweile auf jedem Kuhdorf eine Netto-Filiale vorfinden (oder in Sichtweite, nicht weiter!, ein Lidl), wo man fürs kleine Geld sein Körbchen mit Pfifferlingen oder Champignons auffüllen kann

    - und richtig: Zeitreisende soll man wirklich nicht aufhalten

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  2. Tja, gute Frage. »IN die Pilze.« Keine Ahnung. Vielleicht ist das kurz für »IN den Wald gehen und DIE PILZE suchen.« Wer weiß ...

    Wenn ich nichts finde, gehe ich gewöhnlich an Muttis Tiefkühltruhe. Da finde ich garantiert welche. Fertig geputzt, geschnippelt und gebraten. :-D So von Anno 2002 oder 2003. ;-)

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  3. AUs aktuellem Anlass? ich hoffe, dass nicht ich den genoten habe.

    Danke übrigens für den scharfzüngig intelligenten Kommentar, sinniger Weise nehme ich das nächste mal den waschtrog mit in den Wald, ach nö am Besten gleich noch den Herd...

    Hezliche Grüße aus Sachsen nach Sachsen

    Shoushou

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  4. Oje die Schreibfehler sind so peinlich. Geboten habe und die Grüße sind natürlich herzlich, sorry, an der Groß- und Kleinschreibung versuch ich mich jetzt nicht auch noch, denk dir einfach, wie es richtig gewesen wäre

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  5. Bei Frauen denke ich mir immer meinen Teil ... äh, wie es richtig gewesen wäre. ;-) Herzliche Grüße! Tilo

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