Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Happy Plätzchen Tantchen!


Als Jahresendtext folgt nun eine der »Tantchen« Geschichten. Etwas anderes fällt mir dieses Jahr eh nicht mehr ein.

»Ich bin jetzt da! Mach hinne mein Schunge! Ich komme nicht erst hoch! Beeile dich! Wir sind spät dran! Wir haben ...«

Weiter kommt Tantchen nicht, denn ich sitze schon auf dem Beifahrersitz neben ihr. Von wegen spät dran. Sie ist ausnahmsweise mal zu der vereinbarten Zeit bei mir und nicht eine halbe Stunde eher da.

»Wo kommst du denn so plötzlich her? Haste etwa schon unten auf mich gewartet? Du kannst es wohl nicht erwarten, zur Tina zu fahren?«

Naja, ob ich nun da oben oder hier unten warte ist eigentlich egal.

»Hast du ein Glück, daß ich noch zu der Friedel ins Krankenhaus mußte, die Grüße und ihr Weihnachtsgeschenk vom Kaffeekränzchen überbringen. Sonst hättest du mit der Bahn fahren müssen.«

Gut, da die Tina Tantchens Nachbarin ist, wäre ich jetzt schon mit dem Zug zu unserer kleinen Weihnachtsfeier unterwegs. Zurück komme ich auch nur mit der S-Bahn. Seltsamerweise habe ich darüber noch keinen Gedanken verschwendet und mir auch keine Bahnverbindung herausgesucht.

»Also die Friedel scheint gar nicht mehr nach Hause zu wollen. Die hat sich dort häuslich eingerichtet. Erst hatte sie es mit der Galle, dann mit dem Rücken und nun mit dem Ohren. Auf drei verschiedenen Stationen war die dort schon.«

Klar, zu Hause ist sie allein und schaut nur in die Röhre. Dort hat sie Abwechslung, kann mit anderen Rentnern quasseln und wird vielleicht sogar in die Röhre geschoben.

»Die hat dort ihren Spaß! Bei ihr auf dem Zimmer liegen noch zwei andere Patientinnen. Ein Hörsturz und eine fiebrig vereiterte Stirnhöhle. Zwei patente Frauen! Beide auch schon um die 70. Die haben sich viel zu erzählen. Einen Fernseher für die Quasselpause haben die auch. Wenn mal eine zur Untersuchung ist oder auf dem Klo.
Was haben die nicht alles bei der Friedel schon getestet und untersucht. Sogar in die Röhre haben sie die schon geschoben! Aber die finden einfach nichts! Das mußt du dir mal vorstellen: Erst haben sie ihre ...«

Ich rechne mit einem 20-minütigen Fachvortrag über moderne Untersuchungsmethoden, unfähige, übermüdete Ärzte, unfreundlichen Krankenschwestern und schalte auf Durchgang. Es gibt genügend Gründe, bei einer Einweisung in eine Krankenstation vorsichtshalber mit dem Leben abzuschließen.
Die Tina hat uns für heute zu sich eingeladen. Zum Kaffee trinken und Stollen essen. Wahrscheinlich hat sie mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil sie es noch nicht geschafft hat, an einem Donnerstag bei mir und mit mir kulinarisch kreativ zu werden.

»Wie die das überlebt hat?«

Die Tina müßte eigentlich noch genug Soljankavorräte von mir haben.

»Mensch! Nicht die Tina! Die Friedel meine ich! Du sollst nicht nur von der Tina träumen, sondern auch mal richtig aktiv werden! Sonst wird das nichts! Hast du das Glas Quittenmarmelade für die Tina mit? Die braucht doch Nachschub! Das habe ich dir aber erzählt!«

Ja doch! Zwei Gläser sogar. Es ist zwar vereinbart, daß wir uns zu Weihnachten nichts schenken, aber Marmelade zählt da nicht.

»Über das Weihnachtsgeschenk vom Kaffeekränzchen hat die Friedel sich nicht gefreut. Das hätte sie dort zweimal am Tag.«

Geschenke? Mit dem Leben davon zu kommen ist ein Geschenk. Wahrscheinlich wird sie zweimal am Tag untersucht.

»Quatsch! Aber wir sind jetzt da. Mal sehen ob meine Parklücke noch frei ist.«

Die ist garantiert noch frei. Niemand ist so lebensmüde und macht Tantchen den Parkplatz streitig.

»… und rückwärts rein. Hier parke ich schon seit über dreißig Jahren mein Schunge!
Warte mal. Nicht so eilig! Ich muß nochmal in den Kofferraum.«

Tantchen knallt die Kofferraumklappe zu und hat einen Beutel in der Hand.

»Nein mein Schunge. Denn Beutel trage ich selber hoch. Paß lieber auf die Gläser mit der Marmelade auf. Wenn du die jetzt runterschmeißt, hat die Tina nichts davon.«

Dann eben nicht. Vielleicht hat die Friedel auch Quittenmarmelade bekommen.

»Da seit ihr ja! Schön!«

Mir rutschen fast die Gläser mit der Marmelade aus der Hand, als mich die Tina kurz umarmt und mir einen Kuß am Ohr vorbeihaucht. Das ist das erstemal, daß sie dies tut und ihre Pheromonkeule droht mich dabei knock out zu schlagen.

»Ist dir schlecht? Mensch! Laß die Marmelade nicht fallen! Gib her! Schön das du daran gedacht hast. Danke! Da wird die Fine sich freuen.«

Meine Hand umkrampft die Wohnungstürklinke von innen, mir drohen die Knie wegzuknicken und wie durch einen sich drehenden Schleier sehe ich die Fine, wie sie mißtrauisch, bereit ihre Kinderzimmertür sofort wieder zu zuschlagen, mich grußlos beäugt. Buff! Tür zu. Diese kalte Dusche rettet mich.

»Ich dachte schon du nippelst mir hier ab. Bist ja auch nicht mehr der Jüngste.«

Sie grinst mich rotzfrech an und ich bin sprachlos. Sie hat zwar recht aber …

»Das mit der Fine nimm bitte nicht persönlich. Ich weiß auch nicht was sie hat. Die verhält sich gegenüber jedem gutaussehenden, interessanten Mann, der mich besucht, so abweisend.«

Was soll das denn heißen? Ist mir heiß oder kalt? Keine Ahnung.

»Turtelt ruhig noch ein bißchen. Es ist schön mein Schunge, daß du jetzt mal ein bißchen aus der Hüfte kommst.«

Was? War das eine Ermahnung? Ich habe doch gar nichts gesagt! Die Tina schaut nun auch sprachlos auf Tantchen.

»Tina! Gib mir die Marmelade. Ich nehme sie mit in die Küche. Den Kaffee koche ich! So dick wie du die Brühe immer machst! Wenn ich so etwas öfter trinke, komme ich ja nie zu einem Herzschrittmacher. Der bei der Friedel im Krankenhaus war schon ein halber Herzkasper.«

Bis auf einen kleinen Kranz mit 4 roten Kerzen ist Tinas Stube wohltuend weihnachtsfrei.

»Der Weihnachtsbaum steht in der Küche. Ich habe doch keinen Platz hier. Dort kehre ich auch öfters.«

Mich beschleicht das Gefühl, heute mit Tantchen und Tina völlig überfordert zu sein.

»Na das Teil nadelt gewöhnlich bis Ostern fröhlich vor sich hin.«

Das kenne ich. Zu gut. Deshalb liegt der Verantwortungsbereich für unsere Weihnachtskrücke nicht bei mir. Das hatte ich dankend abgelehnt. Tantchen schwenkt um die Ecke:

»Schicker Baum! Die Plätzchen sind auch lecker. Ich habe schon mal eins probiert! Aber jetzt gibts erstmal Stollen! Den habe ich besorgt!«

Durch Tina geht ein Ruck.

»Ach du Scheiße! Die Plätzchen! Daran habe ich doch gar nicht gedacht! Da ist zwar nicht viel drin, aber wenn man es nicht gewohnt ist … Das kann ja heiter werden. In einer halben Stunde.«

Was? Was ist da »nicht viel« drin? Halbe Stunde? Was? Das ist definitiv nicht mein Tag.

»Naja, sie wohnt ja gleich gegenüber. Die bekommen wir zur Not schon rüber bugsiert.«

Ach du Scheiße! So unterbelichtet bin ich nun auch wieder nicht. Ich ahne, was für Plätzchen Tina gebacken hat und bin gespannt, wie das Zeug auf Tantchen wirkt.

»Setz dich mal hin mein Schunge! Der Kaffee ist durch. Jetzt gehts los mit dem Stollenmampf. Wo bleibt die Fine?«

Die Fine kommt, ignoriert mich komplett und ich täusche einen schnellen Toilettengang vor. Jetzt, wo sie alle am Tisch sitzen …

»Immer vor dem Essen muß der Schunge mal pullern. Das ist bei dem so drin. Da kannste nichts machen Tina. Damals in seinem Kindergarten …«

… kann ich meinen Plan ungestört durchziehen. Der Tina habe ich doch nicht nur die Marmelade mitgebracht, sondern auch eine Flasche Wodka. Die Sorte mit dem Büffelgrashalm. Aber da wir ausgemacht hatten, uns nichts zu schenken, kann ich sie ihr nicht offiziell in die Hand drücken und muß sie ihr irgendwie anders unterjubeln. So das sie die Flasche erst bemerkt, wenn ich wieder weg bin. Ich schmuggele die Flasche einfach in ihre schwarze Jacke. Die wird sie heute nicht mehr anziehen und die Pulle somit erst morgen entdecken.

»Also der Stollen ist Klasse mein Schunge. Greif zu, bevor der alle ist!«

Der Kaffee ist auch Klasse. Gekocht nach einem Vorkriegsrezept. Zwei Teelöffel Kaffee auf einen halben Liter Wasser.

»Na und? Nach dem Krieg wären wir froh gewesen, wenn wir wenigstens Kaffee gehabt hätten. Da waren Kartoffeln wichtiger! Der Herbert, der war doch manchmal hamstern. Also, der ist aufs Land zum Bauern gefahren um irgendwas gegen Kartoffeln zu verhökern. Beinahe hätte er dabei seine Laute verschachert! Der konnte doch nicht mehr auf ihr spielen, weil sein einer Arm im Krieg geblieben ist. Das habe ich ihm aber verboten! Herbert, habe ich gesagt, Herbert, das kannst du nicht machen. An ihr hängen zuviele Erinnerungen. Weißt du noch, habe ich gesagt, wie wir mit den Wandervögeln …«

Tantchen erzählt los, als würde Herbert mit am Tisch sitzen und Tinas und mein Blick kreuzen sich. Wir schalten auf Durchgang. Nur die Fine schaut belustigt und hört dem Tantchen zu.

»Dit-dit-dit-dah-dah-dah-dit-dit-dit, Dit-dit-dit-dah-dah-dah-dit-dit-dit, Dit-dit-dit-dah-dah-dah-dit-dit-dit,«

Gehupte Morsezeichen. SOS. Save our Souls. Rettet unsere Seelen. Das internationale Seenotrufzeichen. Tinas Telefon klingelt so.

»Was? Du bist mit deinem Chef? Hör auf mit flennen! Conny! Man wildert nicht im eigenen Revier! Ja! Man f… niemals seinen …«

Tina verschwindet wild gestikulierend, mit ihrem Telefon am Ohr in der Küche und Tantchen erzählt und erzählt:

»Du Fine, du mußt dir das so vorstellen: Damals haben wir Zischorienkaffee getrunken. Die Zischorie ist ein Korbblütler. Die Wurzel haben wir geröstet und gemahlen …«

Wenn es der Fine nützt … Wo bleibt die Tina?

»Mensch die Conny spinnt doch! Im Auto! Ihren Chef! Jetzt hat sie den Salat! Schönes Weihnachtsgeschenk! Ist noch Stollen da?«

Es ist noch genug da und Tantchen scheint mit ihren Ausführungen zu Ende zu sein.

» … das war schon eine schlimme Zeit! Der schwere Anfang nach dem Krieg.
So, jetzt machen wir erstmal schnell Bescherung.«

Was? Wie bitte? Wir hatten doch ausgemacht …

»… uns nicht zu beschenken. Ich weiß mein Schunge! Aber eure Gesundheit geht vor!«

Sie kramt den Beutel unter dem Tisch hervor und verteilt drei kleine identische Päckchen unter uns. Mir schwant nichts gutes. Das Päckchen ist leicht und beim Schütteln scheint der Inhalt ziemlich kompakt zu sein. Mein Bauchgefühl macht einen Kopfstand und ich spüre, wie mein Blutdruck steigt. Es hilft nichts. Ich reiße das Päckchen einfach auf.


»Richtig mein Schunge! Das ist ein Blutdruckmeßgerät! Guck mal Tina. Jetzt guckt der so, wie damals, als er noch ein ganz kleiner Junge war. Wenn du ihn da überraschend, so im vorbeigehen, den Schnuller aus dem Mund gezogen hast, da hat der genauso geguckt. So fassungslos und empört! Niedlich!«

Ich schaue auch, wie Fine und Tina, fassungslos auf ein Fieberthermometer.

»Die gab es kostenlos dazu. Mensch! Die Gelegenheit war günstig! 4 Meßgeräte zum Preis von Einem! Vom Apotheker selbst weihnachtlich verpackt. Wer kann denn da Nein sagen?«

Ich! Damit ist auch das Geheimnis um Friedels Weihnachtsgeschenk gelüftet. Mein Blutdruck springt vom 10 Meter Brett. Wohin weiß ich aber nicht.

»Der ist ganz wichtig! Der Blutdruck! Nicht, daß der zu hoch ist! Der ändert sich doch auch ständig. Da muß man immer auf dem Laufenden sein. Deshalb hat die Friedel auch einen bekommen. Das war höchste Eisenbahn! Jetzt, wo sie schon im Krankenhaus liegt. Nun kann sie täglich zweimal nachmessen. Sonst machen wir das doch bloß einmal die Woche.«

Einmal die Woche? Ich ahne es:

»Nu! Beim Kaffeekränzchen! Jeden Mittwoch! Das habe ich durchgedrückt! Blutdruck messen ist wichtig. Das mußten sie einsehen. Wenn es klingelt, gibt es erstmal keinen Kaffee und Kuchen sondern das Meßgerät. Dann wird der Wert zur Vorwoche verglichen. Natürlich führe ich genau Buch darüber. Der Gerda ihrer war schon immer zu hoch. Bei der Hilde schwankt das immer mächtig, je nachdem von welchem Mann sie gerade kommt. Aber normal ist der auch nie! Naja und die Friedel hat es ja nun erwischt. Einmal pro Woche messen ist eben zu wenig.«

Mein Blutdruck schwankt nicht, er wird einfach bunt.

»Kann der auch den Puls messen? So bis 180? Dort bin ich gerade angelangt! Tantchen! Ich bin 26! Was soll der Scheiß?«

Tina bebt. Der müssen sie auch oft den Schnuller geklaut haben, so wie die guckt.

»180 ist entschieden zu viel. Gut, daß du das jetzt immer schön überprüfen kannst. Ich demonstriere euch das mal. Fine! Gib mir mal dein linkes Handgelenk!«

Für Fine ist das alles Kino pur. Sie grinst in sich hinein und beschließt wahrscheinlich gerade nie erwachsen zu werden.

»Dit-dit-dit-dah-dah-dah-dit-dit-dit, Dit-dit-dit-dah-dah-dah-dit-dit-dit, Dit-dit-dit-dah-dah-dah-dit-dit-dit.«

Tina ist wieder wild gestikulierend in Richtung Küche unterwegs.

»Wie der kommt nicht vorbei? Obwohl er es versprochen hat? Mensch Trine! Hör auf mit heulen! Guck mal auf den Kalender! Heute ist Weihnachten! Der Mann hat eine Frau und drei Kinder! Wie soll der da bei dir …«

Bei Tantchen scheint nun auch einiges schiefzugehen.

»Jetzt stelle dich nicht so an Fine. Auch in deinem Alter hat man einen Blutdruck. Du willst bloß nicht! Deshalb zeigt der nichts an! Ach so, die Batterien muß ich ja erst reinfummeln.«

Tinas Wohnzimmerdecke müßte auch mal wieder neu gestrichen werden. Mein Puls und mein Blutdruck geben sich wieder die Hand und pegeln sich bei Normalnull ein. Dabei bemerke ich ein Päckchen Wunderkerzen, das mir Tantchen extra zugeteilt hat.

»Die gibts extra, weil du dir dein Weihnachtsgeschenk mit der Bibbi Blicknix teilen mußt. Hast du mal wieder was von ihr gehört?«

Ja klar. Sie wohnt ja unter mir. Ab und zu raschelt es mal oder es scheppert, wenn ihr was auf die Füße gefallen ist. Aber wozu die Wunderkerzen?

»Siehste! Das habe ich mir nämlich schon gedacht. Ab jetzt gehst du jeden Morgen runter zu der Blicknix, zum Kaffee trinken. Dabei könnt ihr schwatzen und euch den Blutdruck messen. Wenn das Gerät etwas anzeigt heißt das, daß ihr noch lebt. Dann brennt ihr euch eine Kerze an und könnt euch gemeinsam darüber wundern.«

Tinas Wohnzimmerdecke muß wirklich dringend renoviert werden. Ob ich das mache? Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß der Berg eben zum Propheten kommen. Am Donnerstag?

»Die Trine hat wirklich ein Ding an der Waffel. Die hat wirklich geglaubt ... Ich glaube es nicht!«

Die Fine gibt der Tina wieder ein Rätsel auf. So wie sie sich quietschvergnügt den Blutdruck messen läßt. Die verarscht uns komplett.

»Tina, du kannst dich erleichtert zurücklehnen. Der Fine fehlt nichts, außer vielleicht ein Vater. Ihre Werte sind jedenfalls in Ordnung. Ein sauteures Handy will sie jedenfalls nicht haben. 120 zu 80 ist normal. Das läßt sich auch einfach merken: 120 Lichtjahre ist der Sternenebel im All lang, aber der Sprit im Raumschiff reicht nur für 80. Habt ihr das mal gesehen? Kam letztens im Fernsehen. Da gibt es so einen Nebel. Den kannste mit bloßen Augen von hier aus nicht sehen. Da brauchst du das Hubble dafür. Also ich möchte keine 120 Lichtjahre alt werden!«

Das wirst du aber Tantchen. Da gibt es kein Entkommen. Tinas Blick und meiner begegnen sich. Das Plätzchen fängt an zu wirken. Da sind wir uns sicher. Jetzt droht es heiter zu werden.

»Was sind denn das für Teelichter Tina? Erst brennen die rot, dann gelb und nun grün. Dabei hüpfen die und winken! Sind die noch aus der DDR? Aus dem Osten? Jetzt ärgern die sich schwarz. Komisch.«

Köstlich, Tantchens bewußtseinserweiterter Blick auf die jüngste deutsche Geschichte. Dabei steht hier nicht ein einziges Teelicht.

»Jetzt quasseln die noch alle durcheinander! Nein, das kommt von weiter unten. Dein Parkett quatscht! Jedes einzelne Brett für sich! Das gibt es nicht! Ich habe doch das gleiche! Bei mir ist aber Ruhe! Wenn ich die wenigstens verstehen könnte. Die sind so leise. Ob ich mein Hörgerät hole?«

Quatsch Hörgerät. Noch ein Plätzchen und das Parkett wird in einer halben Stunde deutlich. Für Tantchen. Aber das verrate ich ihr nicht.

»Mir ist so schwummrig. Der Kaffee war wohl zu stark. Ob ich mir mal den Blutdruck messe? Nein. Tina, hast du Selters da? Gut, ich gehe mal in die Küche, trinke ein Glas und schnappe am Fenster frische Luft. Das hilft bestimmt.«

Der Fine wird es nun zu bunt und sie verzieht sich in ihr Zimmer. Dabei hält sie, den immer noch um das Handgelenk gebundenen Blutdruckmesser der Tina so vor das Gesicht, als würde sie ihr den Stinkefinger zeigen. Ich bin mir sicher, daß sie dieses Teil ab jetzt als Armband tragen und nie wieder ablegen wird. Nur scheint das der Tina entgangen zu sein, denn sie rollt sich lautlos lachend unter dem Tisch hin und her.

»Hugh! Das Parkett hat gesprochen: Hol dir eine Selters Tantchen! Ich könnte mich wegwerfen! Was wirft die sich auch ein Plätzchen! Ein Blutdruckmesser! Rache kann so schön sein! Wie kommst du eigentlich heute noch nach Hause? Tantchen ist weg vom Fenster, ich fahre dich garantiert nicht und mit den Öffentlichen bist du mindestens 2 Stunden unterwegs bei der Kälte. Es ist Weihnachten! An Feiertagen fährt doch nichts weiter.«

Also gar nicht. So wie die Frau sich am Boden kichernd rumwälzt, kommt mir ein Gedanke. Er ist nicht neu, immer noch 80 Lichtjahre entfernt, aber er scheint so nah zu sein. Tina lugt unter dem Tisch hervor:

»Vorschlag: Die Fine läßt sich heute nicht mehr blicken. Erfahrungswert. Tantchen verzieht sich auch gleich. Das Zeug macht extrem müde, wenn man es nicht gewohnt ist. Auch ein Blutdruckwert. Ich könnte mich wegwerfen! Wir essen dann einfach Abendbrot – Soljanka ist noch genug da – und geben uns anschließend die Kante. Pennen kannst du hier auf dem Sofa.«

Wer kann da Nein sagen? Ich nicht.

»Und? Was denkst du? Läßt die Conny sich das Kind abtreiben oder nicht? Die hat doch schon eine Schwangerschaft von dem vorhergehenden Chef unterbrochen. Lernt die nie dazu? Wenn es ihr beim Sex auch nur noch weh tut? Die sollte sich mal dringend zum Frauenarzt scheren! Der Trine ihr Macker hat übrigens nicht nur drei Kinder, sondern vier. Den kenne ich. Eins ist unehelich.«

Tantchen ist zurück und die inzwischen wieder vertikale Tina fällt entsetzt rückwärts aufs Sofa. Sie zischt mich an:

»Woher weiß die das? Das die Conny schwanger war und wieder ist, das weiß doch keiner! Das habe ich vorhin als Erste von ihr am Telefon erfahren! Von dem unehelichen Kind weiß ich auch nichts! Das gibts nicht!«

Tantchen lehnt betont gelangweilt am Türpfosten.

»Feind hört mit! Du solltest etwas netter zu deinem Weihnachtsbaum sein. Der langweilt sich doch nur in der Küche. Patenter Kerl übrigens! Wenn du in deinem Gourmettempel telefonierst, ist der natürlich auf Aufnahme geschaltet. Der hat doch sonst nichts anderes. Vielleicht solltest du ihm deinen Fernseher geben. Neben dem Kühlschrank ist noch Platz. Er würde sich darüber bestimmt freuen. Mein Gott! Wir haben halt etwas geschwatzt! Wer ist übrigens Enrico? Laut Weihnachtsbaum ist das der einzige Kerl, der hier mal rein platonisch vorbeischaut.«

Weihnachtsbäume lügen nicht. Erleichtert klappt meine Kinnlade wieder hoch. Nichts ist es hier mit gutaussehenden Männern ohne Ende auf Besuch! Nur Tinas Ober- und Unterkiefer bilden noch einen korrekten rechten Winkel. 90° Fassungslosigkeit.

»Ach egal. Das darfst du mir später erzählen. Ich bin so etwas von müde! Die Biege werde ich jetzt machen. Tschüs ihr Turteldinger! Und mein Schunge: Action! Bis später!«

Tinas Kinnlade kracht nach oben. Kobraartig und mit einer Kraft, die gewöhnlich nur Hyänen zur Verfügung steht.

»Der fliegt raus! Sofort! Durch das Fenster! Vorher fackel ich ihn ab! Jetzt gleich!«

Ihre schlagartig freigesetzten Pheromone prasseln wie Katjuscha-Raketen auf mich ein. Aber ich lasse mich davon nicht beeindrucken. Nicht mehr. Die Zeit darüber nachzudenken, ob dieser Umstand gut oder schlecht für mich ist, habe ich nicht mehr, denn Tina ist drauf und dran dem Baum den Garaus zu machen. Da muß wohl noch mehr in ihrer Küche passiert sein, von dem ich nichts weiß. Ich drohe ihr einfach mit dem Blutdruckmesser und sie muß lachen.

»Gut, du hast gewonnen. Aber den Fernseher bekommt er nicht. Ich mache jetzt die Soljanka warm. Der Enrico ist übrigens der Zahnarzt aus dem Bunker. Das war zwischen uns beiden nichts. Der kommt nur zu mir, um sich auszuheulen.«

Kann ich jetzt noch beruhigter sein? Ich taxiere schon mal das Sofa. Das wird knapp vom Platz her. Ob man es ausziehen kann?

»Achtung Lebensgefahr! Achtung Lebensgefahr! Achtung Lebensgefahr!«

Die teilnahmslose Computerstimme aus dem Perry-Rhodan-Zeitalter warnt mich. Zeige mir deinen Klingelton und ich sage dir, wer du bist. Dieses mal hole ich mein Handy aus der Tasche.

»Wieso kommst du nicht runter und machst auf? Ich klingele bei dir wie blöde! Mir ist die Haustür zugefallen! Mein Schlüssel steckt an der Wohnungstür! Ich wollte nur mal kurz ans Auto! Mensch es ist arschkalt! Mach endlich auf!«

Ich setze die Bibbi Blicknix davon in Kenntnis, das ich nicht zu Hause, sondern bei der Tina bin und der Rest unserer Wohngemeinschaft auch ausgeflogen ist, so wie es sich zu Weihnachten gehört.

»Schwachsinn! Du bist doch immer zu Hause! Gut, ich hole dich ab! Dein Schlüsselbund wirst du ja dabei haben. Im Auto übernachte ich nicht! Bis gleich!«

In ca. 80 Lichtjahren Entfernung macht es sehr nahe: Buff, das war es. Schade, aber irgendwie bin ich auch erleichtert.

»Willst du auch einen Teller Soljanka Bibbi? Verfroren siehst du aus! Komm, die heizt durch!«

Tinas Blick trifft mich. Einer aus dem rätselhaften Sortiment.

»Siehste, so kommst du auch noch nach Hause und mußt nicht bei mir auf dem Sofa schlafen.«

Na Klasse! Zu Hause? Ich bin immer zu Hause. Ob hier bei der Tina oder im Haus der Blicknix. Zu Hause zu sein, ist mir sehr wichtig geworden. Aber ob zu Hause oder nicht: Dieser Abend ist vorbei.

»Da bist du der Tina gerade noch so durch die Lappen gegangen. Es gibt keine Zufälle. Das hat schon seinen Sinn, daß ich dich abholen muß. Wenn ich den Wohnungsschlüssel mit an das Auto genommen hätte, wärst du jetzt dran.«

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Der Bibbi hinterher, Tinas Treppe hinunter, bemerke ich nicht nur, daß jeder seine persönliche Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann, sondern, daß auch meine Jacke, Modell linksautonomer Häuserkampf, sich auf der linken Seite ungewöhnlich bauchig und schwer anfühlt. Ich fördere eine Literflasche Finnlandia Wodka aus ihrer Innentasche. Die Tina ist schon goldig und wir schenken uns wahrscheinlich wirklich nichts. Der Abend ist gerettet.

»Aber nur, wenn du Gerhard Schöne auflegst! Alle Platten, die du von ihm hast!«

Die Blicknix lümmelt auf meinem Bett, ich entstaube meinen Plattenspieler und wir trinken den Wodka gleich aus der Flasche. So, wie wir es schon oft gemacht haben.
Die Bibbi lauscht dem Gerhard, schaut sehr betont emotionslos in das imaginäre Nichts, sie raucht eine nach der anderen und mir kommt ein Gedanke: Blutdruckmesser lügen nicht.

Diesen Zettel fand ich dann am nächsten Morgen in Bibbis Küche, beim Blutdruckmessen und Kaffee trinken, zusammengefaltet in der Geschenkverpackung:


In diesem Sinne: Guten Rutsch!

14 Kommentare:

  1. Frau Rot-Weiß-Erfurt30.12.2010, 11:48:00

    Immer wieder schön. *g* .......... Kommasetzung korrigier ich nachher. *fg*

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  2. Erst die erste Hälfte geschafft... mein Schunge... ;o)

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  3. du hast mir gerade mal wieder mein leben gerettet ;)

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  4. Dann mach mal hinne Octa! Dieses Jahr muß das noch werden. *g*

    @Frau R-W-E: Gibts etwa schon wieder neue Kommaregeln? Hattest du den Text nicht schon lektoriert?

    Ja, ich der Seher, Mahner und Retter ... ;-)

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  5. So, fertsch!

    Hat das eigentlich auch autobiografische Einflüsse, oder kann das der geneigte Leser als reines Romanwerk verstehen?

    Gut, über die Blutdruckproblematik sollte schon mal gesprochen werden! Meiner ist gerade im angenehm erhöhtem Bereich, der Postbote brachte heute eine Vinylversion des »Opus Eponymous«-Albums von Ghost, welches gerade zum geschätzt 667. mal durch die Bude schallt. Genial, aber das nur am Rande...muss die Freude einfach teilen...

    Sollten wir uns vor 2011 nicht mehr »sehen«, wünsche ich jetzt schon mal einen erquicklichen Silvesterabend und einen granatenstarken Start ins neue Jahr! Und immer dran denken: Wir wollen nichts trinken, dessen Namen wir nicht ordentlich aussprechen können! Hat bei mir immerhin schon hin und wieder geholfen... ;o)

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  6. Ja, ich teile meine Freude auch gerne, vor allem, wenn mich Tantchen abholt. *g* Sagen wir es so: Die Figuren und die Handlung sind komplett erfunden, haben aber dennoch einen realen Hintergrund. Ich mische munter Charaktere zu Personen und verwebe sie mit schnöden Alltagskram so, daß sie Dinge tun, die sie in der Realtät auch täten. Die Dichtkunst läßt eben der Wahrheit ihren Spielraum und das Leben bietet einen Erlebnisse die so absurd sind, daß man sie gar nicht erfinden könnte. Allerdings bin ich mir bei Tantchen selbst nicht mehr so sicher, ob sie nur in meinem Kopf spukt oder den Sprung ins Diesseits geschafft hat. Gedanken bestehen ja aus Energie und rein theoretisch kann diese sich ja materialisieren. *g* Egal. Die Bibbi ist als Person allerdings sehr real, ihren Namen hat sie sich selbst erwählt und warum sie in den Geschichten nur als Running Gag auftaucht, weiß ich auch nicht. ;-)

    So, da komme ich dich mal schnell besuchen um meine frohen jahreswechselwünsche loszuwerden.

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  7. @Octa: Wir haben heute vormittag geübt: Li-Mo-Na-De konnte er ganz sauber aussprechen. Das neue Jahr kann ihn also gefahrlos überrollen. In diesem Sinne: Einen angenehmen Jahreswechsel!

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  8. Das war heute Vormittag! schon wieder vergessen ... Jetzt übe ich Sbuurdifffooo änerschiee drin... drin... also nochmal: schbooordivooo enerschie ... ach egal. Kaffee geht auch und das kann ich.

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  9. Wer spricht schon freiwillig Limonade aus, wenn es noch Bier gibt? ;o)

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  10. Blöderweise bin ich einer Ernährungsumstellung zum Opfer gefallen. Gemüse, frischer Salat und klares Quellwasser aus der Region. Gesund ist das nicht. Aber was solls ...

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  11. Und das Quellwasser holt der Herr höchstpersönlich täglich zu Fuß von einer kleinen Quelle im Osterzgebirge? .....


    Ich grüble grad, was eher angebracht ist: Staunen, Lachen oder Hilferufen?


    Die Umsetzung des ganzen wird am Donnerstag begutachtet. Zumindest hilft Dein neuer Ernährungsstil Strom zu sparen. So viele Vitamine verspeist Du doch nur, wenn Du sie nicht siehst. ;-)

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  12. Wieso neu? Seit anderthalb Jahren fröne ich den asketischen Lebensstil. Wasser, keine Weiber und Gesang fiel auch flach. Gut, beim Salat und Gemüse habe ich etwas dramatisiert. Aber wenn einer übertreibt, dann bin ich das wohl.

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  13. Bitte nicht singen! Es reicht, daß Du schnarchst.

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