Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Der Winter unter ... – eine Rückblende


Endlich mal ein normaler Winter. Ein richtig schöner DDR-Winter, wie er früher Brauch war und wie ich ihn als Kind auf dem Dorf jedes Jahr hatte. Den gab es hier seit der feindlichen Übernahme durch Westdeutschland nicht mehr. Das hatte bis jetzt nur Wintereinbrüche zu bieten. Miese, kleine, grau-matschige Kaltfronten ohne Sinn, Dauer und Tiefgang. Ein Unterschichten-Winter im Land der tausend Unterschichten. Jetzt ist draußen vor der Tür alles in ein gemütlich lauschiges Weiß gehüllt. Friedlich tanzen die Schneeflocken auf den Pappnasen und dieser Bananenrepublik schlittern sofort die freiheitlich-demokratischen Grundwerte vom Glatteis in die Schneewehe. Auf der Autobahn drehen die Lastkraftwagen Pirouetten, es staut sich tausend Werst durch das Märchenland, Turn- und Kaufhallendächer drohen unter der Schneelast zusammenzubrechen und der Minister, der für sich in Anspruch nehmen kann, seit Luther, eine Reform nicht völlig vergeigt und in den deutschen Sand gesetzt zu haben, verpisst sich mit seinem angetrauten kriegsähnlichen Zustand an den Hindukusch, um den unermüdlich unerschrockenen für unsere Freiheit kämpfenden Staatsbürge(r)n in Uniform auf den Nerv zu fallen und ihnen ihr christliches Weihnachtsfest unter ungläubiger Feindeinwirkung gleich doppelt zu vermiesen, anstatt sich als oberster Dienstherr aller Schneeräumkommandos um sein historisches Erbe – die stets einsatzfähigen Straßen und vor allem Autobahnen – zu kümmern.

Im »Osten« wäre dieses Chaos nicht passiert. Wie auch. Damit sich ein DDR-LKW vom Typ W50 auf der Autobahn hätte drehen können, müßte er erstmal auf diese kommen. Dafür gab es schlicht keinen Grund. Die Transportwege waren kurz – niemand z. B. wäre auf die Idee gekommen Rostocker Hafenbräu ins, mit guten Bier verwöhnte Vogtland zu Kutschen, um es dort Mangels Absatz wegschütten zu müssen – und alle wichtigen Grundnahrungsmittel wurden vor Ort hergestellt. In jeder Kreisstadt gab es ein Backwaren- oder Fleischkombinat und eine Fuselbude, die alles halbwegs pflanzliche vergärte und destillierte, was die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nach der Ernte übrig hatten, und was als Viehfutter nichts taugte. Das bißchen Zeug konnte man auch breit fahren, ohne die Autobahn nutzen zu müssen. Mit Schneeketten und Proviant für 14 Tage konnte man so auch das entlegenste Dorf versorgen. Alles andere mußte eben auf den Frühling warten. Auf welchen, den kommenden, den darauf folgenden oder den in drei Jahren war dabei sowieso nicht vorhersehbar.

Vorhersehbar aber war, daß es auf der Autobahn nie zu einem Stau kommen konnte. Wie auch? Was sollte ein PKW im Winter auf der Autobahn? In den Urlaub fahren? Wohin denn? Nach Zakopane in den Ski-Urlaub? Talfahrten und Schnee gab es genug zu Hause und kein Auto mehr haben, war kein erstrebenswertes Erholungsziel. Gearbeitet wurde ja auch vor Ort. Im Backwaren- oder Fleischkombinat, in der Fuselbude oder in der LPG auf dem Dorf. Kein normaler sozialistischer Bürger hat die Autobahn gebraucht, um auf Arbeit zu kommen. Auch weil kaum einer ein Auto sein Eigen nennen konnte. Um einen Stau im kapitalistischen oder im marktwirtschaftlichen Ausmaß fabrizieren zu können, hätte man alle Wagenbesitzer der Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden nach Feierabend auf die Autobahn beordern müssen. Ein geordneter und diszipliniert abgehaltener Stau, von ca. 20km Länge, in Höhe der Abfahrt Siebenlehn, hätte dem Klassenfeind jenseits der sozialistischen Schneefallgrenze vor Neid über die Schlagkraft der hiesigen Automobilindustrie grün werden lassen. Die Direktübertragung des DDR-Rundfunks über das Geschehen – eine Megaphonstimme ordnet ruhig den Rückzug: »Bürger der Deutschen Demokratischen Republik! Bitte lösen sie sich auf! Fahren sie rechts und links an den Fahrbahnrand und bilden sie eine Gasse! Die PKW-Trabant und Shigulie mit dem Baujahr vor 1960 und dem polizeilichen Kennzeichen, beginnend mit den Buchstaben XT für den Bezirk Karl-Marx–Stadt, verlassen zu erst durch die zu bildende Gasse die Autobahn an der Abfahrt Siebenlehn, in Richtung der Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt unserer Deutschen Demokratischen Republik. Ich wiederhole: Bürger der Deutschen Demokratischen Republik! Bitte lösen sie sich auf! Fahren sie ...« hätte ihnen, angesichts ihres eigenen postfaschistischen und antiautoritären Chaoses den Rest gegeben, wenn, ja wenn das Politbüro der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur aus Betonköpfen bestanden hätte, die zu unflexibel für den modernen Klassenkampf waren.

Tja, und Turnhallen die unter der Schneelast hätten zusammenbrechen können, gabs auch nicht. Zumindest nicht auf dem Dorf. Die Schweinemastanlagen und der Dorfkonsum waren solide nach sowjetischen Vorbild gebaut und trotzten allen Wetterunbilden. Und die gab es auf dem Dorf jeden Tag.


Der Winter – ich erinnere mich genau – kam bei uns völlig überraschend, pünktlich am 1. Dezember, jedes Jahr des Nachts. Abendbrot gab es immer um 18.30 Uhr. So wurde sichergestellt, daß man mit geputzten Zähnen 10min vor 19.00 Uhr an der Flimmerkiste saß, um den Abendgruß des DDR-Fernsehens mit dem Sandmännchen zu sehen. Das hatte man zwar als Jungpionier nicht mehr nötig, um einschlafen zu können, aber so signalisierte man seinen Eltern die Bereitschaft, ohne viel Gewese in sein Bett gehen zu wollen. Das war wichtig, um sie gnädig zu stimmen, damit man sich den Serienscheiß reinziehen konnte, der darauf folgte. Unglaublich, auf was für einen Mist man damals abgefahren ist. »Der Hengst Karino«, »Kantor auf der Spur«, »Janosik, Held der Berge« usw. Aber gegen den Dreck der heutzutage gesendet wird, war das moralisch-ethisches Bildungsfernsehen auf höchstem Niveau. Danach kam die Katastrophensendung an sich: Der Wetterbericht. 19.25 Uhr, noch vor der Hauptausgabe der Aktuellen Kamera, vermeldete der Wetterfrosch mit sorgenvollen Gesicht die neuesten Bedrohungen für die sozialistische Landwirtschaft. Und die hieß nunmal, in den Worten meines Vaters, an jedem 1. Dezember: »Ach du Scheiße! Die Nacht schneit es! Da muß ich noch einmal ins Büro.« Dorthin mußte er jeden Abend nach dem Wetterbericht. Jeden Abend kam da ja eine Unwetterwarnung, der er als Produktionsleiter seiner LPG die Stirn bieten mußte. Mal drohte es zu regnen, dann war arger Sonnenschein angesagt oder die Temperaturen kletterten in einen der Produktion abträglichen Bereich. Für einen akademisch gebildeten Landwirt war jedes Wetter zu jeder Jahreszeit die blanke Katastrophe. Dem normalen Bauern war dies alles egal. Der hatte seine Regeln und wußte ansonsten stur sowieso alles besser. In Papas LPG, die ausschließlich Tierhaltung betrieb, war das Wetter beim Melken und Stall ausmisten auch eher Nebensache. Für den gewöhnlichen Bauern. Für einen Rinder- und Schweinezüchter aber nicht. Also stürmte mein Vater jeden Abend in den Zentralrat der LPG und ich ins Bett.

Der erste Wintermorgen verlief auch immer gleich. Draußen war alles komplett weiß und eingeschneit. Vom Fenster aus konnte ich beobachten, wie die Bauern den Kampf gegen den Winter aufnahmen. Seit früh um 3.00 Uhr schippten sie die Wege zu den Ställen und zur LPG-eigenen Sandgrube frei. Dann wurde gestreut, was diese hergab. Ausrutschen konnte man auf diesen Wegen kaum, aber im Sand versinken. Der Winterdienst wurde vorbildlich und exakt nach den hausinternen Richtlinien der Produktionsgenossenschaft, Tierproduktion Schönberg umgesetzt. Genau bis zur Dorfgrenze. Dann war Ebbe oder besser Schnee. Hüfthoch. Mindestens. Bis zur Bushaltestelle mußten wir den Schnee fast suchen, um die ersten Schneebälle werfen zu können. Und wie jedes Jahr hofften wir, daß der Schulbus im Schnee stecken blieb und wir von Rotgardisten in ihrem sagenhaften LKW vom Typ URAL abgeholt und in die Schule gefahren würden. Und wie in jedem Jahr, erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Mit einem lauten »Buff!« durchbrach der IKARUS zur gewohnten Zeit, um genau 6.32 Uhr die Schneemauer, um uns einzusammeln.

Am Steuer saß derselbe Omnibusfahrer – Charon genannt, warum weiß ich nicht – in seinem hemdsärmeligen Buskostüm, wie zu jeder Jahreszeit. Drinnen waren die Fenster schmutzig-schwarz angelaufen und es herrschte eine brütende Hitze. Der Dieselmotor im Heck röhrte auf, eine schwarze Rauchwolke zog durch die hinteren Sitzplätze – damals gab es noch keinen Feinstaub, nur Grobstaub, der dafür verantwortlich ist, daß ich noch heute nach jeder Busfahrt zwanghaft duschen gehen muß – und ab gings durch die Schneewehen gen Nachbarort zur Schule. Wir trösteten uns dann immer über die entgangene URAL-Fahrt mit den heldenhaften Rotgardisten und ihren Kalaschnikows vor der Brust hinweg, in dem wir feststellten, daß so ein sowjetischer LKW ja für richtige Winter ausgelegt ist, und bei einer lumpigen Schneehöhe von gerade mal einen Meter nur wegzurutschen droht, weil sein Reifenprofil da noch gar nicht richtig greifen konnte. Das stimmte uns versöhnlich und wir schossen, an der Schule angekommen, unsere Schnee-Sandbälle nur gegen die Eiszapfen, die an der Dachrinne hingen und nicht gleich in die geöffneten Fenster. Dann ging es zum Heimat- und Sportunterricht, und wie schon beschrieben, in die schönsten Schweineställe der Umgebung.

Das wichtigste am Winter war, daß es endlich kein Bebbeln, wie wir das Fußballspielen nannten, mehr gab. Dafür mußten wir Eishockey spielen. Darauf freuten wir uns schon das ganze Jahr, so daß wir natürlich am Tag Eins des beginnenden Winters mit Puck, Schlägern und Schlittschuhen loszogen um – wie bei allem, was wir in unserer Freizeit taten – gehörig einzubrechen. In unserem Dorf gab es zwei dafür geeignete Teiche. Der eine war der rechteckig angelegte Pfarrteich. Früher, als der Pfarrer in der Gemeinde noch etwas zu sagen hatte und nicht nur während der Christenlehre DEFA-Indianerfilme als DIA-Vortrag zeigen durfte, wurden dort von den Bauern, auf sein Geheiß, Karpfen gezüchtet. Da der Teich nur 30cm tief ist, wurden daraus auch nur Schlammkarpfen, die nicht mal die Katze des Seelenhirten fraß und so die Fischzucht mit der Bodenreform eingestellt wurde.

Natürlich war das Eis noch viel zu dünn, um uns tragen zu können. Folgerichtig endete unser Ausflug mit nassen und verschlammten Klamotten in der mütterlichen Küche, bei gehöriger Schelte und viel heißem Pfefferminztee. Aber da gab es doch noch den LPG-Teich. Dieser war rund, etwas kleiner und da er 20cm tiefer war als der Pfarrteich, diente er als illegale Müllhalde für all das Gerät, was die Bauern nicht mehr brauchten. Dorthin zogen wir am Tag Zwo des beginnenden Winters, um natürlich wieder einzubrechen. Dies gestaltete sich allerdings riskanter und verlustreicher. Mancher Schlittschuh verhakelte sich unlösbar mit dem Schrott unter der Wasseroberfläche, so daß für manchen die Eislaufsaison beendet war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Die einzige Chance, die man hatte, um an neue Schlittschuhe zu kommen, war tränenüberströmt, klatschnaß und von oben bis unten besudelt nach Hause zu laufen, der Mutter kreischend sein Leid zu klagen und auf Weihnachten zu hoffen.

Aber bis dahin galt es noch knapp 20 Tage zu überbrücken. Eine Möglichkeit war Cowboy und Eskimo zu spielen. Das war nichts anderes als eine wüste Schießerei mit Pfeil und Bogen oder den handgefertigten Katapulten. Letztere waren in unseren Händen eine tödliche Waffe. Deshalb verzichteten wir, wenn wir uns damit beschossen, auf die aus Traktorenkugellagern gewonnenen Stahlmurmeln, die wir auf dem Schrottplatz - also im LPG-Teich - fanden, und beschränkten uns auf die im Sommer gesammelten Quarzsteinchen aus der LPG-Sandgrube. Aber zwischen Schweine- und Rinderställen war das Schußfeld selten übersichtlich und nach 12 geschrotteten Milchglasfenstern, zwei geborstenen LKW-Frontscheiben und diversen abgefallenen Rückspiegeln, mußten wir die Waffen erstmal ruhen lassen und warten, bis Schnee über die Sache gefallen war.

So wurden wir Kundschafter für den Frieden und entdeckten eine Ölquelle, die wir natürlich sofort erschlossen. Etwas stutzig hätte ich dabei werden sollen. Das Öl färbte zwar den Schnee bräunlich-gelb, aber es dampfte an der kalten Winterluft. Seit wann ist Erdöl warm, wenn es an die Erdoberfläche kommt? Oder besser: Seit wann kommt es aus einem Rohr, was direkt in den Schweinestall führt? Meine Mutter war schwer begeistert, als ich ihr, so als frischgekrönter Ölprinz und bis auf die Haut vom wertvollen Rohstoff durchtränkt, von unserer Entdeckung berichtete. Der Kochtopf mit dem Sonntagsbraten ist ihr vor Freude aus der Hand gefallen. Dann meinte sie, als sie die Jauchespur, die ich gezogen hatte, quer durchs Haus, an der LPG-Küche vorbei und über die Treppe zu uns hinauf in den ersten Stock ausgiebig bewundert hatte, daß sie sich keinen Kopf mehr darüber machen müßte, über das, was aus mir mal werden würde.

Komischerweise waren alle LPG-Mitglieder derselben Meinung, was meine Zukunft betraf. Wahrscheinlich deshalb, weil ich schon damals den Forscher- und Entdeckerdrang in mir verspürte. Alles mußte ich erkunden. Auf dem Hof vor unserem Haus gab es nichts, auf das ich nicht klettern konnte. Ob Traktor, Feuerwehr, Anhänger, LKW, oder Viehtransporter, auf allem mußte ich herumturnen, diverse Schalter und Hebelchen ausprobieren und das unabhängig vom Wetter und der Jahreszeit. Nur einen Mähdrescher konnte ich nicht erforschen, weil die Bauern in weiser Vorraussicht ein Wache davor postiert hatten. Diese Erfahrungswelt hat mich für mein späteres Leben sehr geprägt, denn ich entdeckte dabei verschiedene Gesetzmäßigkeiten. Unter anderen das Gesetz der Schwerkraft. Jedes Fahrzeug, was ich erklomm, schüttelte mich wieder ab. Es gab nichts, von dem ich nicht wieder heruntergefallen bin, und es gab nichts, an dem ich mir nicht die Kopfhaut aufgeschlagen habe.

Doch, etwas gab es. Die LPG-Toilette. Das war ein kleiner Anbau, gleich hinter der LPG-Küche. Darin gab es nur zwei kleine Zellen, nach Geschlecht getrennt und ein extra installiertes Gemeinschaftswaschbecken. Zwei Kloschüsseln für über hundert Bauern? Das war mir nicht geheuer und ich ging der Frage nach, wo der gemeine Bauer sonst seine Notdurft zu verrichten pflegte. Dafür mußte ich erstmal das Klo totlegen. Das ging für mich kleines, wendiges Kerlchen ganz fix. Ich bin durch den Normaleingang rein in die Herrentoilette gehuscht und habe sie von innen verriegelt. Unter der Trennwand durch gerollt, befand ich mich im Weiberklo, welches von mir auch ordnungsgemäß von innen verschlossen wurde. Von dort entwischte ich durch das kleine Fenster nach außen und am Blitzableiter nach unten. Bis dahin war es eine leichte Übung. Seelenruhig konnte ich nun vom angrenzenden Spielplatz aus beobachten, was passieren würde. Erstmal passierte gar nichts. Klar, die Schlange die sich vor dem Klo im Haus bildete, konnte ich ja von draußen nicht sehen. Der wurde ich erst gewahr, als sie um das Haus herum reichte. Dann gab es einen fürchterlichen Tumult, der darin gipfelte, das man von außen durch das kleine Fenster versuchte, mit Hilfe eines Besenstils die Verriegelung von innen zu lösen. Dies gelang auch kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Was ein Glücksfall für die Bauern war, da ich auch vorsichtshalber die Glühbirnen lockergedreht hatte. Soweit so gut. Abschließend konnte ich feststellen, daß der gewöhnliche Bauer sehr unwirsch reagiert, wenn man ihm sein Klo zuschließt, aber die eigentliche Frage konnte ich so nicht beantworten. Ich führte die selbe Versuchsreihe fort, bis es zu gefährlich für mich wurde und ich erstmal warten mußte, bis Schnee über die Sache gefallen war. Dieses Warten, bis alles wieder vergessen war, zog sich sowieso quer durch meine Kindheit und ich habe mir diese erfolgreiche Strategie bis heute bewahrt.

Zurück zum Schnee. Was im Winter noch blieb, um sich nach der Schule die Zeit zu vertreiben, war rodeln gehen. Zum Skifahren waren wir noch zu klein und entschieden zu faul. Einfacher als dieses stumpfsinnige herumrutschen auf Skiern war es, mit dem Schlitten den Hang herunterzujagen. Das machte mehr Spaß. Ich hatte einen modernen roten High-Tech Plasteschlitten, der sich wie ein Panzer lenken ließ. Links und rechts gab es eine Bremse, und damit konnte ich herrlich im Slalom an den Bauernkindern vorbeizischen, die mit ihren Uralt-Holzhobeln unterwegs waren. Aber Bauernkinder konnte man nur begrenzt ärgern, sonst fährt man schnell mit sich selbst Schlitten. Also mußte ich ihnen etwas bieten, bei dem sie mir beweisen konnten, was für Helden sie waren und so rief ich die Vier-Schanzen Tournee ins Leben. Das war genau, während des letzten Winter, den ich in meinem schönen Dorf verbrachte, bevor wir umziehen mußten.

Die erste Schanze war ein kleiner Schneehaufen direkt am Hang. Dort hoben die Schlitten kurz ab, um zwei Meter durch die Luft zu fliegen und um noch vor dem Bach an der Straße zum Stehen zu kommen. Die Bauernkinder waren begeistert und wollten gar nicht wieder aufhören mit Rodeln. Erst am dritten Tag war selbst bei denen die Luft raus und ihnen wurde langweilig. Ihren Vorschlag, Eishockey spielen zu gehen und dabei wieder schön einzubrechen, konnte ich mit dem Verweis auf meine zweite Schanze abwehren. Die war gewaltig und beim Anblick derer, ersparte sich jeder die Überlegung nach einer Dritten und Vierten. Genau neben unserer eigentlichen Rodelbahn war im Gebüsch ein Kartoffelkeller im Hang versteckt. Tief in den Berg gegraben, um ihn frostsicher zu machen, lugte nur senkrecht seine 2m große Tür heraus. Darüber schloß die Decke nach ca. 1,50m mit dem Hang ab. Das war unser Schanzentisch. Erst waren die Bauernkinder etwas sprachlos über meine hochfliegenden Pläne, aber ich konnte sie schnell von meinem Anliegen überzeugen. Mit solchen Kleinigkeiten, wie den Schanzentisch vom Gebüsch zu befreien, hielten wir uns gar nicht erst auf und wuchteten unsere Schlitten auf den Kamm. Dann verließ sie doch der Mut und wir losten aus, wer als Erster da runter und über den »Tisch« gleiten durfte. Normalerweise wurde so etwas mit einem Abzählreim bestimmt, aber in dieser Hinsicht mißtrauten sie mir zutiefst. Die Tölpel hatten nie begriffen, das man mit etwas Mathematik im Hirn, den Reim so herunterbeten konnte, daß das Ergebnis immer seinen eigenen Interessen entsprach. Für sie war ich der Hexer, der mit schwarzer Magie dieses immer erreichte. Also vertrauten sie mehr den Streichhölzern, die ich munter manipuliert für sie zum Loseziehen bereit hielt. Diese Deppen! Kurzum: Wir waren zu viert und die drei anderen mußten vor mir den Hang herunter und über die Schanze. Was allen Dreien auch gelungen ist. Nur ich bin nicht gleich mit dem Schlitten hinterher gefahren, sondern war erstmal nachsehen, weil die drei Probanden nicht wieder zurück kamen. Das konnten sie auch nicht. Der erste und leichteste hatte es bis über den Bach und die Straße geschafft, bevor ihm die Bruchsteinmauer zum Verhängnis wurde. Die anderen beiden Weicheier sind nur bis in den Bach gekommen. Bis zu den Hüften steckten sie im Schlamm fest und bis ich jemanden gefunden hatte, der mir die Story geglaubt hat, die Beiden aus dem Wasser zog und den ersten Teilnehmer unter der zusammengestürzten Bruchsteinmauer barg, gingen 2 Stunden ins Land, oder eben in den Schnee.

Das Ergebnis meiner Vier-Schanzentournee konnte sich unter sportlichen Gesichtspunkten sehen lassen. Von vier Beteiligten hatten zwei eine Lungenentzündung und einer trug eine gediegene Gehirnerschütterung davon. Damit trug ich unverletzt den Gesamtsieg davon. Allerdings mußte ich dann bis Weihnachten zu Hause warten, bis Schnee über die Sache gefallen war, und die Eisdecke in den Teichen dick genug gefroren war, um ein zünftiges Eishockeymatch der Extraklasse abhalten zu können. Aber da sind wir, glaube ich, auch irgendwie eingebrochen.

Nun ja, mein nächster Winter fand dann in der Stadt statt. Wir mußten ja umziehen, weil mein Vater überraschend zu Höherem berufen wurde und damit einen richtigen Job an einer Hochschule erhielt. Was allerdings an der Tatsache, daß er nach dem Wetterbericht nochmal in sein Büro mußte, nichts änderte.

8 Kommentare:

  1. Jungejunge, ist das wieder viel geworden. Hab nur das erste Viertel gelesen, muss gleich los. ;o)
    Interessant isses schon, was Schnee alle Jahre wieder so anrichten kann und wie erschrocken und überrascht die Republik darauf reagiert. Nun ja, muss sich halt jeder selber einrichten...
    Schön, dass du das ostdeutsche Gegenstück zur derzeitigen Globalisierung erwähnst, das war dieser Tage öfter im Gespräch. Und wenn sie den Theo behalten wollen, der Genosse Krenz hat doch Zeit, dann passt auch das Wetter wieder, hehe...
    So, nun aber los, zu Fuss, die Ruhe ist früh echt angenehm!

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  2. Es wäre noch mehr geworden, wenn Frau R-W-E wenigstens die Hälfte aller Kommas dringelassen hätte. *g*
    Naja, aber das ist doch schon krank: Die Hälfte aller produzierten Lebensmittel wandern in die Tonne. Das ist auch nicht billig. Vorher werden sie hunderte von Kilometern durch die Gegend gekarrt. Da lob ich mir die Mangelwirtschaft. Die war für den Endverbraucher billiger.

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  3. So, Rest auch gelesen. Beim Thema Schanzentisch, fiel mir wieder ein, dass ich am Hügel bei Hummelmühle (im Lockwitzgrund) als halbhoher Rotzer einmal die verwunderten Blicke aller anwesenden und ausweichenden Rodler und Skifahrer auf mich zog, als ich von ziemlich weit oben und ohne jeglichen Bremsversuch runterdonnerte. Weiter unten kommt dann so ein Absatz - ich weiß nicht, wann die Telemarklandung Standard wurde - von dem ich locker 2,87 Meter gen Südwest segelte und jämmerlich auf die Fresse flog. Nun ja, wer´s kann...

    Müsste man mal wieder versuchen...

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  4. Nee, laß sein Octa. Auf dem Wintersport da liegt kein Segen. Das gibt Beule oder Bruch. In Ruhe die Landschaft, den Arbeitsweg oder was weiß ich genießen ... Mehr muß nicht sein. Bloß weil mal im Elbtal ein wenig Schnee liegt, müssen wir nicht gleich die guten Vorsätze aus unserer Kindheit über den Haufen werfen. ;-)

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  5. Frau Rot-Weiß-Erfurt18.12.2010, 20:36:00

    Nu soll ich also Schuld sein. Gut. Wenns nur um die Kommas geht, kann ich damit leben. ...
    Der Schnee darf ruhig noch ne ganze Weile liegen bleiben. Nur warum alle Welt bei schön kaltem Winterwetter freiwillig ins Schlittern kommen will, versteh ich nicht.

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  6. Weil alle Welt nicht, so wie du, über Profil, Bodenhaftung, Anziehungskraft usw. verfügt. *rumschleim*

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  7. 24. dezember... es weihnachtet, wie es nur weihnachten kann... wir wollen gar nicht tränenselig daherschwallen, jedoch, mein digitaler kamerad, lass dir ein frohes fest wünschen! ;o)

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  8. Dito! Komm gut durch den Schnee, Octa! Frohes Fest!

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