In seiner Pension duschte er und zog sich um. Jetzt war er wieder der gutaussehende Mann, der Eindruck hinterließ, und nicht der angepißte, stinkende Straßenköter, der sich durch sein Leben biß.
Er packte ein paar Sachen zusammen und legte sie neben seinen Laptop griffbereit auf die Bettcouch.
Wenn sein Plan schiefging, mußte er verschwinden. Nicht gänzlich, aber hier würde er nicht mehr ruhig schlafen können. Er muß jetzt zu der M. gehen und ihr reinen Wein einschenken. Wenn sie es schluckte, hatte er die ganze Nacht Zeit, mit ihr zu reden. Er hatte keine Angst davor. Nicht vor ihr. Er hatte nur Angst, daß sie ihn rausschmiß, ohne daß er sich erklären konnte.
Die Kerzen standen bereit und das Essen noch in der Küche. Sie hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gekocht und erstaunt festgestellt, daß es ihr Spaß machte. Wahrscheinlich kam es darauf an, für wen man in der Küche stand.
Morgen waren sie in den Staaten. Joe Blacks Leiche war von der Polizei freigegeben worden und eine Unterschrift von ihr genügte, um sie in die Schweiz überführen zu können. Auf dem Seeweg natürlich. Joe haßte das Meer und nun hatte er alle Zeit dieser Welt, seine Heimfahrt zu genießen.
Sie war guter Dinge, wie schon lange nicht mehr, und sie freute sich auf alles – auf ihn, auf das Essen mit ihm, die Nacht mit ihm und auf die Reise mit ihm.
Als er in der Tür stand, war sie glücklich. Er nicht. Er schien etwas bedrückt und niedergeschlagen zu sein. Aber sie beschloß, dies zu ignorieren. Nach dem Essen sieht die Welt für gewöhnlich anders aus; und sie hatten ja genug Zeit, darüber zu reden.
Die attraktive Frau um die 30 stand plötzlich im Zimmer, erschien unvermittelt, wie ein böser Geist. Als der Joker sie bemerkte, war es bereits zu spät. Er hätte sowieso nichts mehr tun können. Sie schoß sofort und das Hirn der M. spritzte gegen die Wand, noch bevor es zu Ende überlegen konnte, wo diese Frau plötzlich hergekommen war. So war der Fairness Genüge getan. Es gab nur noch sie und ihn.
Sein Hirn hatte keine Lust, zermatscht an der Wand zu enden und schaltete alle Regionen ab, die etwas mit Gefühl zu tun hatten. Er war eiskalt und in den Überlebensmodus geschaltet.
Er hätte sie erschießen sollen. Kein Hahn hätte mehr nach ihr gekräht. Die Polizei nicht, ihr Auftraggeber nicht und der Killer, der ihr auf den Fersen sein mußte, auch nicht.
Unaufgefordert ging er rückwärts zum Tresor, die Arme leicht nach außen gebogen und die Handflächen ihr zugewandt. Sie bedeutete ihm stehenzubleiben.
Seine Augen taxierten sie. Ihre Miene war angespannt, aber sonst ausdruckslos, und sie sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Als hätte es den Nachmittag und das Stundenhotel nicht gegeben. Sie ging um ihn herum und durchsuchte mit einer Hand die Fächer des Schreibtisches rund um den Tresor.
Sie tat gut daran, denn sie fand seine Waffe. Sie lag schon seit gestern Abend dort. Sie glich ihrer eigenen aufs Haar. Derselbe kurzläufige Revolver mit einer 7 Schuß Kammer und einem abgesägten Korn. Sogar die Patronen waren identisch. Sie ging den Weg zurück, ihre Waffe auf ihn gerichtet und darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen.
Dann ging es weiter in die Küche. Sie dirigierte ihn mit dem Lauf der Pistole. Er mußte ihr folgen. Am Besteckkasten angelangt, griff sie sich den Tresorschlüssel und warf ihm diesen zu.
Die Handschellen waren ein Witz. Das waren Billigteile aus dem BDSM-Zubehörhandel. Aber auch höherwertige, selbst solche, die die Polizei nutzte, waren schnell aufzubekommen.
Sie funktionieren alle nach demselben Prinzip. An einem Bügel ist ein Zahnkranz eingefräst. Schließt man die Schelle, ratscht eine bewegliche Sperre über den Zahnkreis, die sofort in ihn einklinkt, wenn man den Bügel wieder in die andere Richtung ziehen will, also die Fessel wieder lösen möchte. Der Schlüssel ist im Prinzip nur ein Haken, der die Sperre wieder nach oben drückt, damit diese den Zahnkranz freigibt.
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Sperre auch ohne Schlüssel aufzuhebeln. Entweder man bastelt sich aus einem festen Stück Draht – beliebt sind dafür Haar- oder Büroklemmen – einen Haken, den man direkt an der Schelle zurechtbiegen kann und benutzt ihn als Schlüssel. Oder man nimmt einen schmalen, leicht elastischen Plastikstreifen, führt ihn einfach seitlich in die Schelle ein und drückt ihn zwischen Sperre und Zahnkranz - das ist die schnellere und elegantere Lösung, wenn man über ein geeignetes Stück Plastik verfügt.
Sie hatte sogar zwei davon. Ihre Vorliebe für klassisch geschnittene Blusen, mit hochaufstehenden Kragen half ihr, sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Vorne im Kragen, rechts und links, waren zwei passende Streifen eingearbeitet, die diesen nach oben versteiften. Früher benutzte man statt Plastik- Pappstreifen, die man vor dem Waschen einfach herausziehen konnte, wie bei ihrer Bluse.
Der Joker hatte ihr die Hände nach vorn um das Bettgestell gefesselt, so daß sie problemlos an die Streifen kam. Sie war schon frei, als er sich draußen anschickte, daß Zimmer für drei weitere Tage zu bezahlen.
Sie war also schon mal in dieser Wohnung gewesen und hatte diese durchsucht. Das konnte nur während ihres Opernbesuches gewesen sein. Die hier verbauten Schlösser waren keine große Hürde. Den Tresorschlüssel hatte sie gefunden, aber ihr Photo mit Joe Black übersehen.
Sie machte viel zu viele Fehler, um in diesem Gewerbe alt werden zu können. Mit dem Rücken zur Sitzecke stehend, warf sie ihm den Tresorschlüssel zu.
Über ihre Schulter sah er, daß dieses Schwarz/Weiß Photo fehlte. Warum? Was wußte die M.? Er ahnte, daß es noch eine böse Überraschung geben würde. Das Bild war nicht zufällig verschwunden. Die M. hatte es abgenommen, damit er oder jemand anders es nicht zu sehen bekam. Nein, eher jemand anders. Die Bullen vielleicht. Das Kitschbild mit Goethes Hexeneinmaleins fehlte auch. In der Komposition der Bilder an der Wand klaffte ein Loch.
Darauf konnte er sich gar keinen Reim machen, aber seine dunklen Vorahnungen verdichteten sich.
Sie ging duschen, als er das Hotel verließ. Ihr Schlachtplan war klar. Sie würde im Park auf ihn warten. Dort im Gebüsch, wo sie schon einen halben Abend verbracht hatte. Er mußte noch einmal in die Pension zurückkommen, um sich umzuziehen. So in Jeans und Kapuzenshirt konnte er der M. nicht unter die Augen treten, das verschaffte ihr einen Zeitvorteil.
Fertig angezogen, nahm sie ihren Revolver aus dem Nachttisch. Die Patronen waren noch drin. Eine zog sie prüfend heraus. Er hatte sie nicht ausgetauscht. Warum sollte er auch? Er konnte nicht ahnen, daß sie sich so schnell befreien würde und ließ ihr die Chance, sich später eventuell ihren Weg freischießen zu können.
Seine Demütigungen waren nicht vergessen. Gerade in diesem Milieu, in dieser lausigen Gegend und diesem heruntergekommenen Hotel, schmerzten sie doppelt. Das hier kannte sie alles und sie haßte es. Sie haßte es, wie ihre versoffenen Eltern, die sie in so einem Umfeld haben groß werden lassen. Immer war dort einer stärker als sie und die Ratten kannten nichts anderes, als sich gegenseitig fertig zu machen.
Mit 15 Jahren gewann sie das erste Mal. Nicht gegen Gleichaltrige - darin war sie geübt - nein, gegen einen, der schon Mitte Zwanzig war. Sie war dabei, sie war gezwungen zu zusehen, was seine Freunde mit ihrer älteren Schwester machten. Die Brutalität war es nicht, die sie stark machte, die kannte sie, aber die Hilflosigkeit ihrer Schwester, dem ausgeliefert zu sein, schon. Zu oft hatte sie Ähnliches gesehen und war selbst, wie durch ein Wunder, bis jetzt davon verschont geblieben. Sie hätte es nicht ertragen und sie biß, sie riß ihm den Schwanz ab, als er es seinen Freunden gleich tun wollte.
Es stimmte schon. Täter suchten sich ihre Opfer nicht aus. Die Opfer boten sich an. Sie war keines, sie würde niemals eines sein.
Seine Pistole nahm sie mit. Es war ihr Startkapital in eine bessere Welt.
Madam M. mußte sterben. Das war sie dem Joker schuldig.