Untergehen ist das Eine, unter der Oberfläche bleiben das Andere. ;-)

Dienstag, 23. März 2010

Jubilierende Altenpflege

Dunkle verschneite Häuserschluchten mit dem Charme eines betongrauen Neubaugebietes. In den Fenstern schwibben bunte Lichter, die sich stumpf auf dem Straßenmatsch spiegeln. An der Straßenecke steht ein Fremdkörper in Form einer noch neuer erbauten Seniorenresidenz. Deren Fenster sind dunkel und ihr Inhalt schon im Bett.
Im Foyer des Altersheim stehen Glasvitrinen mit gehäkelten Traumfängern, die man für ein paar Euro und für einen guten Zweck tagsüber erwerben kann. Vermutlich hat jeder Insasse schon seinen eigenen.
Das Licht ist kalt, an den Wänden hängen, von Kindern des Patenkindergartens gemalte, bunte Bilder und die ellenlange Hausordnung mit unzähligen Reglementierungen. Die Wandzeitung lädt sehr kindgerecht zum Tanztee ein und hat den Essenplan parat. Noch ein paar Plasteblumen, der Hauch eines Krankenhauses und das Grauen ist perfekt. Die Tür vom Speisesaal geht auf.

»Da bist du ja endlich! Es sind schon alle da.«

Na Klasse! Seit einer Stunde irre ich hier durch die Gegend! Damit rechnet doch keiner, daß sie ihren 30. Geburtstag in einem Altersheim feiert! Hätte ich sie jetzt nicht angefunkt, wäre ich wieder nach Hause gefahren. Wieso feiert sie überhaupt hier?

»Na bei meiner kleinen Wohnung! Bevor ich da noch aufräume – den Speisesaal kann man billig mieten!«

Der Saal ist klinisch tot. Genau wie das Foyer. Dazu gibt es noch Papiergirlanden, häßliche Faschingshüte stapeln sich auf abwaschbaren Schränken und die kleinen Sprelacarttische bilden, militärisch exakt, eine Linie. Toll. Nur ein Kopfschuß kann schöner sein.

Nur verhalten einladend wirkt der Fresstisch auf mich. Er sieht aus, als hätte sich die Internetadresse www.chefkoch.de hier materialisiert. Zusammengewürfelte kulinarische Experimente mit nicht absehbaren Ausgang. Dem werde ich mich später stellen müssen.

Der Gabentisch enthält genau das, was man sich zum 30. Geburtstag so wünscht: Die Krücke als Wanderpokal mit Unterschriften darauf, die Nutelladose mit dem längst abgelaufenen Haltbarkeitsdatum, der fingierte Rentenbescheid, 5 Flaschen Doppelherz, eine Wäscheleine mit Henkerschlinge, Rattengift, Lederfett und eine Tube Vaseline. Dazu noch diverse hochprozentige Alkoholika.
Da die Jubilarin immer noch keinen gefunden hat, der sich von ihr dauerhaft an den Marterpfahl binden läßt, gibt es auch die obligatorische Mannbackmischung plus Metallform. Witzigerweise ist dem ganzen eine Kombizange zum persönlichen Backform-Mann-verbiegen beigelegt. Der gebogene Metallring selbst zeigt frische Kratzspuren und ist merkwürdig verformt. Der Oberkörper ist im Schulterbereich nach innen verbogen und der Hals zweimal verdreht.

Die Gäste sind mir fast alle unbekannt. Nur mit einer Zwanzigjährigen hatte ich auf einem befreundeten Balkon ein Intermezzo bei einer umzugsbedingten Zigarettenpause. Das war auch im Winter und so bot sich als Gesprächsstoff unser Sexualverhalten auf Zeltplätzen an. Da sie mit dem Ausleben des selben ihre Probleme hatte, erklärte ich ihr ein paar Tricks im Umgang mit Luftmatratzen, Reisetaschen und das schallschluckende Geheimnis männlicher Handkanten. Für mich unvergessen bleibt dabei die Mimik ihres danebenstehenden Freundes, der nur unwesentlich älter als sie ist.

Die Gäste verhalten sich auch merkwürdig. Sie erinnern mich an die Geburtstage meiner Großeltern, als ich ein Kind war. Sie trinken kaum etwas, erzählen aus früheren Zeiten, tauschen sich über Krankheiten aus und reichen Urlaubsbilder herum. Dabei liegt ihr Altersdurchschnitt gerade mal bei 25 bis 27 Jahren! In diesem Alter und zu dieser Uhrzeit ist es jetzt eigentlich, erfahrungsgemäß, Zeit für alkohol- und libidobedingte Peinlichkeiten. Aber der Saal muß verzaubert sein oder die, von 40 über ihm schlafenden Rentnern ausgestrahlte Energie, zeigt diese Wirkung.

Wider Erwarten ist das Essen ganz lecker, auch wenn ich nicht weiß, was ich gegessen habe. Es wird nun Zeit für die Zigarette danach. Zum Rauchen muß man natürlich vor die Tür. Auf dem Weg zu dieser fällt mir ein Pärchen auf: Sie kurz über dreißig, er ein paar Jahre älter. Beide alternativ aber edel-sportiv gekleidet. Über ihren Nobelstrickjacken schwebt ein heftig angestrebter intellektueller Hauch, der durch ihre Brillen geradezu beschworen wird. Sie hat sich fest an ihm angedockt und seine Körpersprache erzählt mir, daß es ihm egal ist. Er ist ein typischer Blender. Der hat keinen Plan. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll, versucht aber Sicherheit und Überlegenheit auszustrahlen. Wenn ich ihn ansehe, schaut er sofort weg. Unser erster Augenkontakt hat ihm völlig gereicht. Seine Freundin schaut mich verstohlen aber interessiert an. Sie kommt mir bekannt vor.

Vor der Tür herrscht das große Frieren. Es ist einfach nur kalt und keiner hat sich zum Rauchen eine Jacke angezogen. Daß man die Eingangstür ab 22.00 Uhr von außen nur mit einer Chipkarte öffnen kann, und ab da die Klingel abgestellt wird, ist uns völlig neu. Glücklicherweise hat ein Gast sein Handy dabei, um einen anderen Gast im Saal anrufen zu können. Nur ist dort die Musik laut und es dauert 20 min, bis er jemanden gefunden hat, der sein klingelndes Funkgerät auch hört.
Gefühlte 3h später öffnet sich die Tür und ich muß aufpassen, daß ich im Sog der zurückströmenden Raucher nicht stolpere um totgetrampelt zu werden.
Zurück im Saal beschlägt meine Brille, so daß ich sie abnehmen muß. Die mich sonst verstohlen aber interessiert Anschauende klappt ihren Oberkörper blitzartig nach vorn und sie nimmt ihre Optik ebenfalls ab. So, wie ich sie jetzt verschwommen sehe, kommt sie mir sehr bekannt vor. Die Frau kenne ich und sie spricht mich an.

»Hast du mal in Strehlen gewohnt?«

Sicher. Bis vor drei Jahren. Dann löste sich unsere Wohngemeinschaft auf und ich mußte den Stadtteil wechseln.

»Damals habe ich dort gearbeitet. In der Aral-Tankstelle. Allerdings noch ohne Brille.«

Alles klar. Das ist mein schnuckeliges Käferchen. Ein Traum, mein Traum. Sie gefiel mir richtig gut, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich unauffällig an sie herankommen könnte. Sie einfach zu irgendetwas einzuladen, hatte ich mich nicht getraut. Obwohl ich wußte, daß sie mich sympathisch fand, wollte ich mein persönliches Waterloo nicht in einer Tankstelle erleben. Nachdem ich mir zwei-, dreimal bei ihr Zigaretten gekauft hatte, kannte sie meine Sorte und holte sie aus dem Regal, wenn ich den Kassenraum nur betrat.

»Na, deine Zigarettensorte kannte nur ich und eine meiner Kolleginnen.«

Ja, das ist der andere schnuckelige Käfer gewesen. Etwas jünger als sie und mit ganz langen Haaren. Sie hatte etwas von Schneewittchen und vermutlich konnte ich mich zwischen den beiden auch nicht entscheiden. Aber sie haben nie in der selben Schicht gearbeitet. Sie konnten mich also nie zusammen gesehen haben. Ich muß grinsen und finde es schön zu wissen, daß zwei attraktive Frauen sich über mich unterhalten haben.
Wir setzen uns die Brillen wieder auf, ich finde sie immer noch zum überkuscheln, sie wird rot und spendet ihren Freund einen kurzen Seitenblick. Der hat zwar mitbekommen, daß eine Unterhaltung zwischen uns stattfand aber der Inhalt ist ihm verborgen geblieben. Beide nippen nun angestrengt am Rotwein, schauen orientierungslos aber gefaßt ins imaginäre Nichts, und ich finde diesen Arsch einfach nur noch Scheiße.

Verstehe einer Frauen …

Es ist erst 22.55 Uhr. Aber gegen dieses Energiefeld von 40 über uns schlafenden Rentnern haben wir keine Chance.
Mir zieht es zuerst die Augen zu und tapfer halte ich mich noch eine Weile, um dann denn Heimweg anzutreten.

Manchmal sieht man ohne Brille besser.

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